SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
machte ein finsteres Gesicht. »Was ist das für ein Wahnsinn? Ist den Sunyd denn alles verloren gegangen, was mit der alten Lebensweise der Teblor zusammenhängt?«
Die Frau seufzte. »Ob es verloren gegangen ist? Ja, schon vor langer Zeit. Unsere eigenen Kinder haben sich des Nachts davongeschlichen, um nach Süden in die Tieflande zu wandern, gierig nach den verfluchten Münzen der Tiefländer – diese Metallstückchen, um die sich das ganze Leben hier zu drehen scheint. Und sie sind bitter missbraucht worden – einige von ihnen sind sogar als Kundschafter für die Jäger in unsere Täler zurückgekehrt. Die verborgenen Blutholz-Haine wurden abgebrannt, unsere Pferde getötet. Wir sind von unseren eigenen Kindern verraten worden, Uryd, und das hat die Sunyd zerbrochen.«
»Eure Kinder hätten zur Strecke gebracht werden müssen«, sagte Karsa. »Die Herzen eurer Krieger waren zu weich. Verrat zerschneidet selbst Blutsbande. Diese Kinder haben aufgehört, Sunyd zu sein. Ich werde sie für euch töten.«
»Du wirst Schwierigkeiten haben, sie zu finden, Uryd. Sie sind in alle Winde zerstreut; viele sind tot, viele in die Sklaverei verkauft, um ihre Schulden zu bezahlen. Und einige sind weit gereist, zu den großen Städten Nathilog und Genabaris. Unser Stamm ist nicht mehr.«
Der Sunyd, der als Erster gesprochen hatte, fügte hinzu: »Außerdem bist du in Ketten, Uryd. Bist jetzt Eigentum von Meister Silgar, dem noch nie ein Sklave entkommen ist. Du wirst niemanden töten, nie mehr. Und genau wie wir, wirst du dazu gebracht werden, niederzuknien. Deine Worte sind hohl.«
Karsa setzte sich rittlings auf den Baumstamm. Dieses Mal packte er die Ketten und wickelte sie sich, so oft er konnte, um die Handgelenke.
Dann warf er sich nach hinten. Seine Muskeln wölbten sich, seine Beine drückten nach unten auf den Stamm, sein Rücken straffte sich. Mahlende, splitternde Geräusche – und plötzlich ein lautes Krachen.
Karsa wurde rücklings auf den Lehmhang geschleudert, die Ketten flogen ihm um die Ohren. Er blinzelte den Schweiß aus den Augen und starrte auf den Baumstamm hinunter.
Der Stamm war der Länge nach gespalten.
Vom hinteren Ende kam ein leises Zischen, dann das Rasseln freier Ketten. »Der Vermummte soll mich holen, Karsa Orlong«, flüsterte Torvald Nom, »du kannst mit Beleidigungen nicht sonderlich gut umgehen, was?«
Obwohl Karsas Handgelenke und Knöchel nicht mehr an dem Baumstamm befestigt waren, waren sie doch noch immer an die eisernen Stäbe gekettet. Der Krieger wickelte die Ketten von seinen zerschundenen, blutenden Unterarmen und packte eine der Eisenstangen. Er legte die Fußkette gegen den Stamm, trieb das nicht breit geklopfte Ende des Stabs in ein einzelnes Kettenglied und begann ihn dann mit beiden Händen zu drehen.
»Was ist geschehen?«, fragte einer der Sunyd. »Was war das für ein Geräusch?«
»Das Rückgrat des Uryd ist gebrochen«, erwiderte der erste Sprecher gedehnt.
Torvald lachte, doch es war mehr ein kaltes Glucksen. »Oh, Ganal, du sprichst dir selbst dein Urteil, fürchte ich.«
»Was meinst du damit, Nom?«
Das Kettenglied barst, ein Stück flog zischend über den Graben und prallte gegen den Erdwall.
Karsa zog die Kette aus den Schellen um seine Knöchel. Dann machte er sich daran, die Kette zu knacken, die seine Handgelenke hielt.
Noch ein knackendes Geräusch. Er befreite seine Arme.
»Was geht da vor sich?«
Ein drittes Krachen, als er die Kette von dem Eisenstab abriss, den er benutzt hatte – es war der unbeschädigte, dessen Flansch noch intakt war, scharfkantig und gezackt. Karsa kletterte aus dem Graben.
»Wo ist dieser Ganal?«, knurrte er.
Alle Sunyd, die in dem gegenüberliegenden Graben lagen, zuckten bei seinen Worten zurück – alle außer einem.
»Ich bin Ganal«, sagte der einzige Krieger, der sich nicht bewegt hatte. »Also doch kein gebrochenes Rückgrat. Nun gut, Krieger, dann töte mich für meine zweifelnden Worte.«
»Das werde ich tun.« Karsa schritt von dem Laufgang herunter, hob die Eisenstange.
»Wenn du das tust«, sagte Torvald hastig, »werden die anderen wahrscheinlich laut schreien.«
Karsa zögerte.
Ganal lächelte zu ihm auf. »Wenn du mich verschonst, wird es keinen Alarm geben, Uryd. Es ist Nacht, noch mindestens einen Glockenschlag bis zur Dämmerung. Du wirst deine Flucht – «
»Und ihr werdet alle dafür bestraft werden, dass ihr keinen Alarm geschlagen habt«, sagte Karsa.
»Nein. Wir haben alle
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