SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
wir dich unsererseits im Stich lassen. Wir müssen einen anderen suchen, einen, der stärker ist. Einen, der nicht aufgibt. Einen, der nicht flieht. Unser Vertrauen in dich, Karsa Orlong, war nicht gerechtfertigt.
Der Dunstschleier wurde dichter, gedämpfte Farben blitzten durch ihn hindurch. Er stellte fest, dass er auf der Kuppe eines Hügels stand, der sich unter ihm bewegte und knirschte. Ketten gingen von seinen Handgelenken aus, liefen auf allen Seiten die Hänge hinunter. Hunderte von Ketten, die in den regenbogenfarbigen Nebel hineinreichten – und an ihren Enden, die nicht zu sehen waren, bewegte sich etwas. Als er nach unten blickte, sah Karsa Knochen unter seinen Füßen. Teblorknochen. Tiefländerknochen. Der ganze Hügel bestand aus nichts als Knochen.
Die Ketten wurden plötzlich schlaff.
Bewegung kam in die Nebelschwaden, Bewegung, die sich aus allen Richtungen näherte.
Entsetzen ergriff Karsa.
Leichname, viele von ihnen ohne Kopf, stolperten in sein Blickfeld. Die Ketten, durch die die entsetzlichen Gestalten mit Karsa verbunden waren, verliefen durch klaffende Löcher in ihrer Brust. Welke Hände mit langen Fingernägeln streckten sich nach ihm aus. Die Erscheinungen stolperten auf die Hänge zu und begannen hinaufzusteigen.
Karsa wehrte sich, versuchte zu entkommen, doch er war umzingelt. Die Knochen unter seinen Füßen hielten ihn fest, sie klapperten und schlossen sich immer enger um seine Knöchel.
Ein Zischeln, flüsternde Stimmen aus verwesten Kehlen. »Führe uns, Kriegsführer …«
Er schrie auf.
»Führe uns, Kriegsführer.«
Sie kamen immer näher, reckten die Arme, lange Nägel fetzten durch die Luft -
Eine Hand schloss sich um seinen Knöchel.
Karsas Kopf zuckte zurück und prallte mit einem widerhallenden Dröhnen gegen Holz. Er schluckte Luft, die wie Sand seine Kehle hinunterfloss und ihn zu ersticken drohte. Als er die Augen öffnete, sah er vor sich die sanft geneigten Decks des Schiffs und Gestalten, die reglos dastanden und ihn anstarrten.
Er hustete hinter seinem Knebel, wobei jedes Husten einen Feuersturm in seinen Lungen entfachte. Seine Kehle schmerzte, und ihm wurde klar, dass er geschrieen hatte. So sehr, dass seine Muskeln sich verspannt hatten, verkrampft waren und ihm die Luft abschnitten.
Er starb.
Eine flüsternde Stimme, tief in seinem Innern: Vielleicht lassen wir dich doch noch nicht im Stich. Atme, Karsa Orlong. Es sei denn, du willst noch einmal deine Toten treffen.
Atme.
Irgendjemand riss den Knebel von seinem Mund. Kalte Luft strömte in seine Lungen.
Aus tränenden Augen starrte Karsa auf Torvald Nom hinunter. Der Daru war kaum zu erkennen, so dunkel war seine Haut, so dicht und verfilzt sein Bart. Er war an den Ketten, mit denen Karsa gefesselt war, hochgeklettert, um den Knebel zu entfernen, und schrie jetzt unverständliche Worte, die der Teblor kaum hörte – Worte, die er den erstarrten, furchtsamen Malazanern entgegenschleuderte.
Jetzt endlich nahm Karsa auch den Himmel über dem Schiffsbug richtig wahr. Dort blitzten Farben auf, erblühten inmitten schäumender Wolken, und Wirbel schienen aus etwas herauszuströmen, das riesigen offenen Wunden glich. Der Sturm – wenn es das war, was es war – beherrschte den ganzen Himmel vor ihnen. Und dann sah er die Ketten, die durch die Wolken herabzuckten und donnernd auf dem Horizont aufschlugen. Hunderte von Ketten, unglaublich groß und schwarz, peitschten in Explosionen aus rotem Staub durch die Luft, fetzten im Zickzack über den Himmel. Entsetzen erfüllte seine Seele.
Es gab keinen Wind. Die Segel hingen schlaff herab. Das Schiff wiegte sich in träge schwellenden Wogen. Und der Sturm kam näher.
Ein Seemann trat mit einem Zinnbecher voll Wasser herbei und reichte ihn zu Torvald hoch, der ihn nahm und an Karsas verschorfte, verkrustete Lippen setzte. Die brackige Flüssigkeit brannte wie Säure im Mund des Teblor. Er wandte den Kopf ab.
Torvald sprach leise auf ihn ein, Worte, die langsam zu Karsa durchdrangen. »… haben geglaubt, du wärst für uns verloren. Nur dein Herzschlag und das Heben und Senken deiner Brust haben uns gezeigt, dass du noch am Leben warst. Wochenlang ist das so gegangen, mein Freund. Du hast kaum etwas bei dir behalten. Es ist fast nichts mehr von dir übrig – man kann sogar da Knochen sehen, wo eigentlich gar keine sein sollten.
Und dann diese verdammte Flaute. Tag für Tag. Nicht eine Wolke am Himmel … bis vor drei Glockenschlägen. Vor drei
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