SdG 08 - Kinder des Schattens
nicht anders sein, denn sonst versänke die Sphäre im Chaos.
Er starrte auf den Berg aus Blättern hinunter, unter dem der Leichnam des Kriegers lag. Er hatte sich freiwillig gemeldet, in dieser ersten Nacht Wache zu stehen. Kein Leichnam der Edur wurde jemals unbeaufsichtigt gelassen, wenn die Dunkelheit herumschlich, denn sie scherte sich nicht darum, ob ihr Atem in warmes oder kaltes Fleisch drang. Ein Leichnam konnte genauso leicht grässliche Ereignisse entfesseln wie die Handlungen eines Lebendigen. Er brauchte weder eine eigene Stimme noch eigene Gesten. Stets waren andere begierig darauf, an seiner statt zu sprechen, das Schwert oder den Dolch zu ziehen.
Hannan Mosag hatte dies als die größte Schwäche der Edur bezeichnet. Alte Männer und Tote waren die Ersten, die das Wort Rache flüsterten. Alte Männer und Tote standen vor der gleichen Mauer, und während die Toten dieser Mauer zugewandt waren, kehrten die alten Männer ihr den Rücken zu. Hinter der Mauer lag das Vergessen. Alte Männer und Tote sprachen von den Endzeiten aus, und beide hatten das Bedürfnis, die Jungen auf die gleichen Pfade zu führen – und sei es nur, um all dem, was sie einst gekannt und was sie einst getan hatten, Bedeutung zu verleihen.
Mittlerweile waren Fehden verboten. Verbrechen aus Rache verurteilten die ganze Familie zu einer schmachvollen Hinrichtung.
Von seinem Platz beim Baum aus, unter dem Trull Sengar – vor sich die Leiche – im Zwielicht stand, hatte er beobachtet, wie sein Bruder in den Wald gegangen war. In diesen Stunden – den dunklen Stunden – hatte Rhulad sich heimlichtuerisch verhalten, hatte sich wie ein Gespenst vom Rand des Dorfes weggestohlen.
In den Wald hinein und auf den Nordpfad.
Der zu dem Friedhof führte, der für die Bestattung des Beneda-Kriegers ausgewählt worden war.
Wo eine einsame Frau Nachtwache hielt.
Es könnte ein Versuch sein, der fehlschlagen wird. Oder die Wiederholung eines Treffens, das schon zuvor, schon viele Male stattgefunden hat. Sie ist undurchschaubar. So wie alle Frauen undurchschaubar sind. Aber er ist es nicht. Er wurde zu spät geboren, um mit in den Krieg zu ziehen, und so ist sein Gürtel leer. Er wird auf andere Weise Blut vergießen wollen.
Denn Rhulad muss gewinnen. Er muss immer gewinnen. Das ist der schmale Grat, auf dem sein Leben verläuft, der dünne Strang, den er mit jeder wahrgenommenen Kränkung selbst spinnt – unabhängig davon, ob sie wirklich oder nur eingebildet ist –, mit jedem stummen Augenblick, der ihm angesichts der gewaltigen Hohlheit seiner Taten Verachtung entgegenbrüllt.
Rhulad. Alles, was es wert ist, dass darum gekämpft wird, wird kampflos errungen. Jedes Ringen ist ein Ringen mit dem Zweifel. Ehre ist nichts, das man verfolgen könnte, denn wie alle anderen Lebenskräfte besitzt sie einen eigenen Antrieb, jagt geradewegs auf dich zu. Und im Augenblick des Zusammenpralls wird die Wahrheit über dich offenbar.
Es war ein Versuch. Den sie zurückweisen würde, mit empört funkelnden Augen.
Oder sie schlangen in diesem Moment bereits ihre Arme umeinander, und es gab jetzt dort in der Dunkelheit Hitze und Schweiß. Und Verrat.
Und er konnte sich nicht von der Stelle rühren, konnte seine eigene Nachtwache bei diesem unbekannten Beneda-Krieger nicht aufgeben.
Sein Bruder Forcht hatte ein Schwert geschmiedet, wie es Brauch war. Er hatte vor Mayen gestanden, während die Klinge auf seinen Handrücken ruhte. Alle hatten gesehen, wie sie vorgetreten war und die Waffe angenommen hatte. Sie zurück in ihr Haus getragen hatte.
Verlobung.
Ein Jahr nach jenem Tag – von heute an keine fünf Wochen mehr – würde sie mit dem Schwert aus dem Eingang treten. Dann würde sie mit ihm vor der Schwelle einen Graben ausheben und es anschließend in die Erde legen und vergraben. Eisen und Erde, Waffe und Heim, Mann und Frau.
Hochzeit.
Bis zu jenem Tag, an dem Forcht Mayen das Schwert dargeboten hatte, hatte Rhulad sie kein einziges Mal angesehen. War es die Gleichgültigkeit der Jugend? Nein, die Edur waren nicht wie die Letherii. Ein Jahr bei den Letherii war wie ein Tag bei den Edur. Unter den Maiden der adligen Haushalte gab es eine Hand voll hübscherer Frauen. Doch er hatte sein Augen danach auf sie gerichtet.
Und das machte es zu dem, was es war.
Er könnte diese Nachtwache aufgeben. Ein Beneda-Krieger war schließlich kein Hiroth-Krieger. Ein vom Meer angenagter Leichnam, der in Kupfer, nicht in Gold gehüllt war. Er könnte
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