SdG 08 - Kinder des Schattens
sie nur das sehen, was ihre Einbildungskraft heraufbeschwört? Optische Täuschungen? Gestalten in der Dunkelheit? Wird nicht gerade auf diese Weise ein Verdacht zu Gift? Aber zu einem Gift wie Weißer Nektar, bei dem jeder Schluck dich nach mehr dürsten lässt.«
Trull schwieg mehrere Herzschläge lang. Dann sagte er: »Forcht hat vor noch nicht allzu langer Zeit mit mir gesprochen. Darüber, wie man wahrgenommen wird – im Gegensatz zu dem, wie man wirklich ist. Dass die Macht des Ersteren die des Letzteren überwältigen kann. Dass die Wahrnehmung in der Tat die Wahrheit formt, so wie Wellen einen Stein.«
»Was willst du von mir, Trull?«
Er blickte Rhulad direkt an. »Hör auf, vor Mayen herumzustolzieren.«
Ein seltsames Lächeln. »Also gut, Bruder.«
Trulls Augen weiteten sich leicht.
Das Seil ruckte dreimal.
»Ich bin dran«, sagte Rhulad. Er packte das Seil und geriet schnell außer Sicht.
Die Knoten dieser Worte waren alles andere als locker. Trull holte tief Luft und ließ sie dann langsam wieder entweichen; er wunderte sich noch immer über jenes Lächeln. Darüber, wie eigentümlich es gewesen war. Ein Lächeln, das Schmerz hätte sein können, aus einer Verletzung heraus geboren sein mochte. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf sich selbst und überprüfte, was er fühlte. Es war nicht leicht zu erkennen, aber … Vater Schatten, vergib mir. Ich fühle mich … befleckt.
Die drei Rucke schreckten ihn auf.
Trull nahm das schwere Seil in die Hand; er spürte das Bienenwachs, mit dem die Fasern eingerieben worden waren, um zu verhindern, dass sie verfaulten. Ohne die Knoten, die Händen und Füßen Halt gaben, wäre der Abstieg in der Tat tückisch. Er schritt über den Rand hinaus, richtete den Blick auf die Felswand und machte sich auf den Weg nach unten.
Glitzernde Rinnsale liefen an dem rauen Stein vor ihm hinunter. Hier und da waren rotfleckige Kalkausblühungen zu sehen. Die Schrammen, die Rhulad und Forcht verursacht hatten, glänzten im schwächer werdenden Licht – rohe Furchen, die alles verwundeten, was sich an den Felsen klammerte.
Knoten um Knoten stieg er am Seil in die Tiefe, während sich die Dunkelheit um ihn herum mehr und mehr verdichtete. Die Luft wurde erst kühl und feucht, dann kalt. Schließlich stießen seine Füße gegen bemooste Felsbrocken, und Hände streckten sich ihm entgegen, um ihn zu stützen.
Er versuchte angestrengt, die Umrisse seiner Brüder auszumachen. »Wir hätten eine Laterne mitnehmen sollen.«
»Die Steinschüssel strahlt Licht ab«, sagte Forcht. »Ein älteres Gewirr. Kaschan.«
»Dieses Gewirr ist tot«, sagte Trull. »Zerstört von Vater Schattens eigener Hand.«
»Seine Kinder sind tot, Bruder, aber die Zauberei besteht fort. Haben sich eure Augen an die Dunkelheit gewöhnt? Könnt ihr den Boden vor euch sehen?«
Ein Durcheinander von Felsbrocken, und dazwischen glitzerte fließendes Wasser. »Ja.«
»Dann folgt mir.«
Sie entfernten sich von der Felswand. Der Untergrund war trügerisch und zwang sie, langsam zu gehen. Tote Zweige, auf denen Pilze und Moos wucherten. Trull sah ein bleiches, haarloses Tier, das einen langen Schwanz hinter sich herzog – eine Art Nagetier –, in eine Spalte zwischen zwei Felsen schlüpfen. »Dies ist die Sphäre des Verräters«, sagte er.
Forcht gab ein Brummen von sich. »Mehr als du ahnst, Bruder.«
»Da vorne ist etwas«, flüsterte Rhulad.
Große, hoch aufragende Umrisse. Menhire, auf denen weder Flechten noch Moos wuchsen, und deren Oberfläche merkwürdig beschaffen war – bearbeitet, wie Trull beim Näherkommen klar wurde, um der Rinde von Schwarzholzbäumen zu ähneln. Dicke Wurzeln ringelten sich am Fuß eines jeden Obelisken, breiteten sich aus, um sich mit denen der nächststehenden Steine zu verflechten. Dahinter fiel der Grund zu einer breiten Senke ab, aus der Licht herausströmte, als wäre es Nebel.
Forcht führte sie zwischen die Menhire, und sie blieben am Rand der Grube stehen.
Die Wurzeln wanden sich abwärts, und in sie eingewoben waren Knochen. Tausende und Abertausende. Trull sah Kaschan, die gefürchteten alten Feinde der Edur, mit reptilienartigen Schnauzen und glänzenden Fängen. Und Knochen, die eindeutig von Tiste stammten. Dazwischen fein gekrümmte Flügelknochen der Wyrm und an der tiefsten Stelle den massiven Schädel eines Eleint; der breite, flache Stirnknochen war einwärts zerschmettert, als wäre er von einer gigantischen, gepanzerten Faust getroffen
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