SdG 08 - Kinder des Schattens
worden.
Aus dem chaotischen Wirrwarr an den Hängen wuchs kahles Gestrüpp, dessen Äste und Zweige grau und zusammengeballt wirkten. Dann stieß Trull zischend den Atem aus. Das Gestrüpp war aus Stein, doch es wuchs nicht wie Kristalle, sondern wie lebendes Holz.
»Kaschan-Zauberei«, sagte Forcht nach einiger Zeit, »wird aus Geräuschen geboren, die unsere Ohren nicht hören können, und zu Worten geformt, die die Bindungen lockern, die alle Materie zusammen- und am Boden hält. Aus Geräuschen, die das Licht beugen und strecken, wie einen Flutwelle, die vom Meer einen Flusslauf hinauf wogt und im Augenblick des Umschlagens auseinander gerissen wird. Mit Hilfe dieser Zauberei haben sie steinerne Festungen erschaffen, die wie Wolken am Himmel dahinglitten. Mit Hilfe dieser Zauberei haben sie die Dunkelheit gegen sich selbst gerichtet, aus einem Hunger heraus, dem sich niemand, der zu nahe kam, widersetzen konnte, einem alles verschlingenden Hunger, der zuerst und in erster Linie sich selbst verzehrte.« Seine Stimme klang merkwürdig gedämpft. »Kaschan-Zauberei wurde wie eine Seuche in das Gewirr von Mutter Dunkel geschickt. So wurde das Tor von Kurald Galain gegen jede andere Sphäre versiegelt. So wurde Mutter Dunkel in den allerletzten Winkel des Abgrunds getrieben, Zeugin eines endlosen Lichtwirbels, der sie umgab – all das, was sie eines Tages verschlingen würde, bis der letzte Fetzen Materie in ihr verschwindet. Und Mutter Dunkel auslöscht. Und so haben die Kaschan, die schon lange tot sind, Mutter Dunkel ein Ritual auferlegt, das mit ihrem gewaltsamen Tod enden wird. Wenn alles Licht verschwunden ist. Wenn es nichts mehr geben wird, das noch Schatten werfen kann. Und damit ist auch Schatten zum Sterben verdammt.
Als Scabandari Blutauge entdeckte, was sie getan hatten, war es bereits zu spät. Das Ende, der Tod des Abgrunds, kann nicht abgewendet werden. Die Reise all dessen, was existiert, wiederholt sich in jeder Größenordnung, Brüder. Von jenen Sphären, die zu klein sind, als dass wir sie wahrnehmen könnten, bis zum Abgrund selbst. Die Kaschan haben alle Dinge der Sterblichkeit unterworfen, sie in den unbarmherzigen Sturz der Auslöschung entgegen eingebunden. Dies war ihre Rache. Vielleicht aus Verzweiflung geboren. Vielleicht aber auch aus dem brennendsten Hass, den man sich vorstellen kann. Im Angesicht ihrer eigenen Auslöschung zwangen sie alles andere, ihr Los zu teilen.«
Seine Brüder schwiegen. Die dumpfen Echos von Forchts letzten Worten verklangen.
Dann räusperte sich Rhulad. »Ich sehe nichts, was auf diese letzte Konvergenz hindeutet, Forcht.«
»Ja, denn es ist ein Tod, der in weiter Ferne liegt. Viel weiter weg, als man sich vorstellen kann. Doch er wird kommen.«
»Und was bedeutet das für uns?«
»Die Invasionen der Tiste haben die Kaschan zu ihrer letzten Tat getrieben. Vater Schatten hat sich die Feindschaft aller Älteren Götter und aller Aufgestiegenen zugezogen. Aufgrund des Kaschan-Rituals muss das ewige Spiel zwischen Dunkel, Licht und Schatten eines Tages enden. Und mit ihm alles, was existiert.« Er blickte seine Brüder an. »Ich teile euch dieses geheime Wissen mit, damit ihr besser versteht, was hier geschehen ist, was getan wurde. Und warum Hannan Mosag von Feinden spricht, die weit über die sterblichen Letherii hinausgehen.«
In Trull erwachten erste glimmende Funken der Erkenntnis zum Leben. Er wandte den Blick von Forchts dunklen Augen ab, wich seinem gehetzten Blick aus und schaute hinunter in die Grube. Zum tiefsten Punkt – dorthin, wo der Schädel des erschlagenen Drachen lag. »Sie haben ihn getötet.«
»Sie haben seine körperliche Existenz vernichtet, ja. Und seine. Seele eingesperrt.«
»Scabandari Blutauge … kann nicht tot sein«, sagte Rhulad und schüttelte den Kopf, als wollte er alles leugnen, was er sah. »Das da ist nicht sein …«
»Doch, er ist es«, sagte Forcht. »Sie haben unseren Gott getötet.«
»Wer?«, wollte Trull wissen.
»Alle. Ältere Götter. Und Eleint. Die Älteren Götter befreiten das Blut in ihren Adern. Die Drachen brachten ein Kind hervor, dem unbeschreibliches Entsetzen innewohnte, um Scabandari Blutauge aufzuspüren und zu jagen. Vater Schatten wurde zur Strecke gebracht. Ein Älterer Gott namens Kilmandaros zerschmetterte seinen Schädel. Dann schufen sie ein Gefängnis aus ewiger Qual, aus Agonie jenseits aller Vorstellungskraft, für Blutauges Geist – ein Gefängnis, das Bestand haben wird, bis
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