SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Magier. Sagt mir, wo sich die mittlere Fliese befindet, Brys. Wird das Kaufmanns-Bataillon in der Stadt bleiben? Ich glaube nicht. Es wird auf jene Hügel geworfen werden. Das ganze Bataillon. Wo ist die Mitte, Brys Beddict?«
»Es ist die Fliese genau vor Euch, Ceda.«
»Oh, ja. Gut. Sehr gut. Und welche Armeen haben wir noch? Wie sieht’s mit den Flotten aus? Ach, die Meere sind unfreundlich, stimmt’s? Sie sollten sich am besten von ihnen fern halten. Zumindest von der Drachensee. Auch wenn die Protektorate unruhig werden. Korshenn, Pilott, Deszent – sie glauben, ihre Gelegenheit sei gekommen.«
Brys räusperte sich. »Das Kunsthandwerker-Bataillon hat Hoeft verlassen und marschiert nach Fünfspitz. Die Zerrissene Brigade hat sich mit geringen Verlusten aus Alt-Katter abgesetzt. Das Schlangengürtel-Bataillon ist aus Ahl abgezogen, und die Rotwut-Brigade hat Tulamesh verlassen – die Städte an der Nordküste sind aufgegeben worden. Dresh wurde letzte Nacht eingenommen, die Garnison niedergemacht. Das Weißfinder-Bataillon macht auf seinem Rückzug von Ersterlang alles dem Erdboden gleich und sollte bald Brans Feste erreicht haben. Preda Unnutal Hebaz wird in drei Tagen das Kaufmanns-Bataillon aus der Stadt führen. Man erwartet, dass Ihr sie begleiten werdet, Ceda.«
»Sie begleiten? Unsinn. Ich bin viel zu beschäftigt. Zu beschäftigt. Es gibt noch so viel zu tun. Sie kann meine Magier haben. Ja, meine Magier.«
»Es sind nur noch vierzehn übrig, Ceda.«
»Vierzehn? Hat das etwas zu bedeuten? Darüber muss ich dringend nachdenken.«
Brys musterte seinen alten Freund Kuru Qan und kämpfte gegen eine Woge von Mitleid an. »Wie lange wollt Ihr noch hier bleiben – auf dem Fußboden, Ceda?«
»Es ist keine einfache Sache, Finadd. Ganz und gar nicht. So, wie es aussieht, fürchte ich fast, dass ich zu lange gewartet habe. Aber wir werden sehen.«
»Wann kann der König Euch erwarten?«
»Leider wissen wir nicht, was wir zu erwarten haben, oder?
Abgesehen von ein paar ins Auge springenden Tatsachen, die wir auf so schmerzhafte Weise dem Chaos entnommen haben. Die Siebte Schließung, oh, in dieser Wendung der Ereignisse liegt nichts Gutes. Ihr müsst jetzt gehen. Kümmert Euch um Euren Bruder, Brys. Kümmert Euch um ihn.«
»Um welchen?«
Kuru Qan putzte erneut seine Linsen; er gab keine Antwort.
Brys drehte sich um und ging auf die Tür zu.
Hinter ihm sprach der Ceda noch einmal. »Finadd. Was auch immer Ihr tut – tötet ihn nicht.«
Er blieb stehen und warf einen Blick zurück. »Wen?«
»Tötet ihn nicht. Ihr dürft ihn nicht töten. Und jetzt geht. Geht, Finadd.«
Viele Gässchen in Letheras sahen niemals echtes Tageslicht. Unzählige Balkone, Simse und Vorsprünge bildeten behelfsmäßige Dächer über ihnen, und die schmalen Gänge darunter waren gewunden und mit Abfall verstopft, ein Reich der Ratten, Pantoffelkäfer und Spinnen. Und der gelegentlich auftauchenden Untoten. Shurq Elalle stand in der Düsternis – etwas, das sie schon den größten Teil der vergangenen Nacht getan hatte. Sie wartete. Die Straße hinter ihr war aufgewacht, als der Tag heraufgedämmert war. Allerdings war die Menge merklich verstohlener und angespannter als sonst. Vor zwei Nächten hatte es in der Nähe des Westtors einen Aufruhr gegeben, der von den Soldaten des Kaufmanns-Bataillons brutal niedergeschlagen worden war. Eine Ausgangssperre war verhängt worden, und endlich war aufgefallen, dass die Ärmsten und die Armen anscheinend aus der Stadt verschwunden waren, was für ein gewisses Maß an Verwirrung und leichtes Unbehagen sorgte.
Fast genau gegenüber der Stelle, an der Shurq stand, befand sich ein Seitentor, das auf Gerun Ebericts Anwesen führte. Der Finadd verabscheute jede Art von Feierlichkeit, wenn er heimkehrte. Das hatte nichts mit Bescheidenheit zu tun. Wesentlich bedeutungsvoller war da schon die Tatsache, dass die Umgebung des offiziellen Eingangs zahllose Möglichkeiten bot, einen Attentatsversuch auf ihn zu unternehmen.
Nichtsdestotrotz ging Geruns Erscheinen mit einer gewissen Aufregung einher. Auf einmal bevölkerten seine Leibwächter die Straße – ein deutlicher Hinweis darauf, dass er jeden Augenblick auftauchen würde. Shurq verschmolz mit der Dunkelheit, als die Männer die Umgebung forschend musterten. Danach nahmen sie Verteidigungspositionen um die Seitenpforte ein und warteten. Als Nächstes erschien ein Offizier, marschierte an ihnen vorbei, schloss das Tor auf und
Weitere Kostenlose Bücher