SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Letherii-Streitkräfte östlich des Königs-Bataillons auszumachen, war weit schwieriger. An der Ostseite der Feste gab es einen künstlichen See, und nördlich davon befand sich das Kaufmanns-Bataillon. An seiner rechten Flanke wand sich ein ausgetrocknetes Flussbett oder ein Abwasserkanal in Richtung Nordosten, und es hatte den Anschein, als wollten die Truppen, die sich hinter dem Graben befanden, ihn als Verteidigungslinie benutzen.
Jedenfalls würde Rhulads eigene Armee den westlichen Teil der vorrückenden Edur-Truppen bilden. In der Mitte befand sich Forchts Armee, und weiter im Osten, hinter ein paar kleineren Hügeln und alten, ausgetrockneten Seen, näherte sich die Armee von Tomad und Binadas Sengar, die von Fünfspitz herunterkam.
Die Anhöhe, auf der Udinaas und Federhexe standen, war von einem Ring aus Schattengespenstern umgeben, und es war dem Sklaven klar, dass schützende Zauberei sie umgab. Hinter der Anhöhe, außer Sichtweite der einander gegenüberstehenden Armeen, warteten die Frauen, die Alten und die Kinder der Edur. Irgendwo bei ihnen befand sich auch Mayen; sie lebte immer noch zurückgezogen unter ihnen und stand immer noch unter der direkten Obhut Uruth Sengars.
Er blickte wieder zu Federhexe hinüber. »Hast du Mayen gesehen?«, fragte er.
»Nein. Aber ich habe einiges gehört …«
»Zum Beispiel?«
»Es geht ihr nicht gut, Udinaas. Sie leidet. Eine Sklavin wurde dabei erwischt, wie sie ihr weißen Nektar gebracht hat. Diese Sklavin wurde hingerichtet.«
»Wer war es?«
»Bethra.«
Udinaas erinnerte sich an sie; eine alte Frau, die ihr ganzes Leben im Haushalt von Mayens Eltern verbracht hatte.
»Sie wollte ihr nur helfen«, fuhr Federhexe fort, zuckte dann die Schultern. »Es hat keinerlei Diskussion darüber gegeben.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Man kann jemandem den weißen Nektar nicht auf einen Schlag wegnehmen«, sagte sie. »Er muss entwöhnt werden. Mit immer kleineren Mengen.«
»Ich weiß.«
»Aber sie machen sich Sorgen um das Kind, das sie unter dem Herzen trägt.«
»Das auf ähnliche Weise leiden muss.«
Federhexe nickte. »Uruth schenkt den Ratschlägen der Sklaven keine Beachtung.« Sie schaute ihn an. »Sie haben sich alle verändert, Udinaas. Es ist, als ob sie … Fieber hätten.«
»Ein Feuer in ihren Augen, ja.«
»Sie scheinen es nicht zu merken.«
»Das ist nicht bei allen so, Federhexe.«
»Bei wem nicht?«
Er zögerte und sagte schließlich: »Trull Sengar.«
»Lass dich nicht täuschen«, sagte sie. »Sie sind alle vergiftet. Das künftige Imperium wird finster sein. Ich habe Visionen gehabt, Udinaas … Ich sehe, was uns erwartet.«
»Man braucht keine Visionen, um zu wissen, was uns erwartet.«
Sie machte ein finsteres Gesicht, verschränkte die Arme. Starrte dann zum Himmel hoch. »Was für eine Art Zauberei ist das?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Udinaas. »Etwas Neues.«
»Oder … etwas Altes.«
»Was spürst du, Federhexe?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie kommt von Hannan Mosag«, sagte Udinaas ein, zwei Herzschläge später. »Hast du die K’risnan gesehen? Die aus Forchts Armee sind … missgestaltet. Verzerrt von der Magie, die sie jetzt benutzen.«
»Uruth und die anderen Frauen halten an der Macht von Kurald Emurlahn fest«, sagte Federhexe. »Sie verhalten sich, als befänden sie sich in einem Krieg, in dem es vor allem um Willenskräfte geht. Ich glaube nicht –«
»Warte«, sagte Udinaas und kniff die Augen leicht zusammen. »Es fängt an.«
Neben ihm fletschte Ahlrada Ahn die Zähne. »Jetzt stehen wir hier und sehen einfach zu, Trull Sengar. Und genau das bedeutet es heutzutage, ein Edur-Krieger zu sein.«
»Es könnte sein, dass wir mehr tun als warten«, sagte Trull. Wir könnten genauso gut sterben.
Der dunkle Staub stieg jetzt in dicken, spiralförmigen Säulen auf und schob sich auf den Todesstreifen zwischen den beiden Armeen zu.
Trull blickte sich um. Forcht stand inmitten seiner Hiroth-Krieger. Vor ihm befanden sich zwei K’risnan, der eine ein verstümmelter, buckliger Überlebender der Schlacht bei Hochfort, der andere war von Rhulads Armee geschickt worden. Körnige Ströme, die wie Staub aussahen, stiegen von den beiden Zauberern auf, und ihre Gesichter waren in stummem Schmerz verzerrt.
Das Krachen eines Blitzes ertönte von der anderen Seite des Todesstreifens und zog Trulls Aufmerksamkeit auf sich. Funkelnde Wogen aus blendend weißem Feuer bauten sich, durchwoben von
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