SdG 09 - Gezeiten der Nacht
gereicht. Wie auch immer, die Forkrul Assail hielten sich in diesem Konflikt für unparteiische Schiedsrichter, und die meiste Zeit haben sie sich auch dementsprechend verhalten. Darüber hinaus«, meinte Bagg schulterzuckend, »habe ich wirklich keine Ahnung.«
Harlest Eberict hatte sich während Baggs Monolog langsam aufgesetzt und starrte den Diener jetzt an. Shurq Elalle war vollkommen reglos, wie es die Toten oft waren. Dann sagte sie: »Ich habe noch eine Frage.«
»Nur zu.«
»Ist diese Art von Wissen unter Bediensteten allgemein verbreitet?«
»Nicht, dass ich wüsste, Shurq. Ich habe einfach im Lauf der Zeit hier und da ein paar Sachen aufgeschnappt.«
»Sachen, die kein Gelehrter in Letheras jemals aufgeschnappt hat? Oder erfindest du diese Dinge einfach, während du sie erzählst?«
»Ich versuche, reine Märchen zu vermeiden.«
»Und – hast du Erfolg?«
»Nicht immer.«
»Du solltest jetzt besser gehen, Bagg.«
»Ja, das sollte ich wohl. Ich werde mich darum kümmern, dass Ublala Euch heute Nacht besucht.«
»Muss das sein?«, fragte Harlest. »Ich gehöre nicht zu denen, die gerne zuschauen –«
»Lügner«, sagte Shurq. »Natürlich tust du das.«
»Gut, dann ist das eben eine Lüge. Aber es ist eine nützliche Lüge, und ich möchte sie gern beibehalten.«
»Diese Einstellung ist unhaltbar –«
»Das ist wirklich eine großartige Aussage, die du da machst – ich meine, in Anbetracht dessen, was du heute Nacht vorhast –«
Bagg nahm seine Laterne und zog sich langsam zurück, während das Streitgespräch weiterging. Er schob die Tür wieder zu, klopfte sich den Staub von den Händen und begab sich zur Leiter.
Im Büro des Lagerhauses angekommen, setzte er den Pflasterstein wieder an Ort und Stelle. Anschließend suchte er seine Pläne zusammen und machte sich zur neuesten Baustelle auf. Die jüngste Errungenschaft von Baggs Bauunternehmen war einst eine Schule gewesen – eine vornehme Schule ausschließlich für die Kinder der reichsten Bürger von Letheras. Wohnräume waren bereitgestellt und die Schule somit im typischen und bei Erziehungseinrichtungen äußerst beliebten Gefängnisstil eingerichtet worden. Was auch immer an Traumata den Kindern in den Räumen der Schule zugefügt worden waren, sie waren zu einem Ende gekommen, als in einem besonders feuchten Frühjahr die Kellerwände unter einer Lawine aus Schlamm und kleinen menschlichen Knochen zusammengebrochen waren. Dann war der Fußboden der Hauptversammlungshalle just zu dem Zeitpunkt abgesackt, als sich die Schüler das nächste Mal versammelt hatten, und Kinder und Lehrer wurden gleichermaßen in einer riesigen Grube aus schwarzem, faulendem Schlamm begraben, in der ein Drittel der Anwesenden ertrank; die Hälfte der Leichen wurde nie gefunden. Baumängel waren für das Unglück verantwortlich gemacht worden, und es hatte einen Skandal gegeben.
Seit jenem, mittlerweile fünfzehn Jahre zurückliegenden Ereignis stand das baufällige Gebäude leer, dem Vernehmen nach heimgesucht von den Geistern empörter Anwälte und bestürzter Klassensprecher.
Der Kaufpreis war entsprechend niedrig gewesen. Die oberen Etagen direkt über der Hauptversammlungshalle waren in ihrer Statik beeinträchtigt, und Baggs erste Aufgabe war gewesen, das Anbringen von Stützen zu überwachen, bevor die Bauarbeiter darangehen konnten, die Grube zum Kellerboden wieder auszuheben. Nachdem der Fußboden freigelegt und das Durcheinander aus Knochen zum Friedhof gebracht worden war, waren Schächte senkrecht in den Boden getrieben worden, quer durch Linsen aus Sand und Lehm bis hin zu einer dicken Kiesschicht. In diese Schächte hatte man Zement geschüttet und darin einen Ring aus senkrecht stehenden Eisenstäben angebracht, gefolgt von abwechselnd verdichtetem Kies und Zement, bis sie zur Hälfte gefüllt waren. Dann wurden Kalksteinsäulen, deren Basis ausgehöhlt war, um die vorspringenden Eisenstäbe aufzunehmen, in die Schächte abgelassen. Von da an ging es in normaler Bauweise weiter. Säulen, Strebepfeiler, doppelte Bögen – all die üblichen Techniken, an denen Bagg kein sonderliches Interesse hatte.
Die alte Schule wurde jetzt in eine palastartige Villa verwandelt, um anschließend an einen reichen Kaufmann oder Adligen verkauft zu werden, dem es an jeglichem Geschmack mangelte. Da es davon mehr als genug gab, würde die Investition sich auf alle Fälle lohnen.
Bagg verbrachte kurze Zeit auf der Baustelle, umgeben von Vorarbeitern,
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