SdG 12 - Der Goldene Herrscher
Mann.«
»Und das wäre?«
»Ich schlüpfe in deinen Kopf. Ich sehe durch deine Augen. Schwimme in den Strömen deiner Gedanken. Ich stehe da und schaue auf die besudelte Kreatur hinunter, die an dieses Zwangsbett gefesselt ist. Und allmählich fange ich an, dich zu verstehen. Es ist intimer, als mit dir zu schlafen, kleiner Mann, denn alle deine Geheimnisse verschwinden. Und nur für den Fall, dass du dich fragst - ja, jetzt mache ich es auch. Ich höre meine eigenen Worte, während du sie hörst, spüre die Enge, die sich plötzlich deiner Brust bemächtigt, dein Frösteln, obwohl du schwitzt. Und die plötzliche Furcht, da dir das Ausmaß deiner Verwundbarkeit bewusst wird …«
Er schlug zu. So hart, dass ihr Kopf zur Seite flog. Blut strömte ihr aus dem Mund. Sie hustete und spuckte, spuckte noch einmal, und ihre Atemzüge kamen abgehackt und keuchend. »Wir können diese Mahlzeit später fortsetzen«, sagte er, wobei er sich bemühte, seine Stimme ausdruckslos klingen zu lassen. »Ich gehe davon aus, dass Ihr in den kommenden Tagen und Wochen ziemlich oft schreien werdet, Janath, aber ich versichere Euch, dass niemand Eure Schreie hören wird.«
Sie gab ein eigentümliches Geräusch von sich, das beinahe wie ein trockenes Husten klang.
Es dauerte einen Augenblick, ehe Tanal klar wurde, dass sie lachte.
»Welch beeindruckende Tapferkeit«, sagte er aufrichtig. »Vielleicht lasse ich Euch letzten Endes doch frei. Im Augenblick bin ich noch unentschlossen. Ich bin mir sicher, dass Ihr mich versteht.«
Sie nickte.
»Arrogante Hexe«, sagte er. Sie lachte erneut.
Er wich zurück. »Glaubt nur nicht, dass ich die Laterne hierlasse«, knurrte er wütend.
Ihr Lachen folgte ihm, als er den Raum verließ, schneidend wie Glasscherben.
Die reich verzierte, mit Kanthölzern und Randleisten aus schimmerndem Blutholz versehene Kutsche war so an den Rand der Hauptstraße von Drene gelenkt worden, dass ihre großen Räder sich über dem offenen Abwasserkanal befanden. Die vier elfenbeinfarbenen Pferde standen teilnahmslos in der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze und ließen die Köpfe hängen. Direkt vor ihnen wurde die Straße von einem Torbogen mit offenstehenden Torflügeln umrahmt, hinter dem sich das ausgedehnte Labyrinth des Hochmarkts erstreckte, ein großer Platz voller Buden, Karren, Vieh und Menschentrauben.
Ströme von Reichtum, ein wirres Durcheinander viel zu vieler Stimmen und unzählige Hände, die Waren feilboten oder entgegennahmen - das alles schien sich zu einer Kraft zu bündeln, die auf Brohl Handars Sinne einhämmerte, obwohl er sich geschützt im plüschbezogenen Innern der Kutsche befand. Die an- und abschwellenden Geräusche des Markts, die in beide Richtungen chaotisch durch das Tor strömenden Menschen und die Menge auf der Straße neben ihm ließen den Aufseher an religiöse Inbrunst denken, als würde er die fast schon wahnsinnige Variante einer Bestattungszeremonie der Tiste Edur miterleben. Anstelle der Frauen, die rhythmisch und zwanghaft ihre Klagerufe ausstießen, trieben Viehtreiber ihre blökenden Tiere durch das Gewühl. Anstelle ungebluteter Jugendlicher, die sich durch schaumige, blutige Gischt kämpften und mit ihren Paddeln auf die Wellen einschlugen, gab es das Klappern der Wagenräder und die schrillen Rufe der Straßenhändler. Dem Holzrauch der Scheiterhaufen und Opferfeuer, die ein Edur-Dorf umgaben, entsprach hier ein träger, staubiger Fluss, der tausend Gerüche mit sich führte. Mist, Pferdepisse, gebratenes Fleisch, Gemüse und Fisch, unbearbeitete Myridfelle und gegerbte Rodarahäute; verfaulende Abfälle und der widerliche Geruch berauschender Drogen.
Hier, bei den Letherii, wurden keine kostbaren Opfergaben ins Meer geworfen. Die Elfenbeinstoßzähne der ihretwegen bekannten Robben lehnten wie die Fangzähne eines hölzernen Folterapparats an Regalen. In anderen Buden tauchte das Elfenbein wieder auf, dieses Mal als tausendfältiges Schnitzwerk, das allerlei religiöse Objekte der Edur, der Jheck und der Fent darstellte, oder als Spielfiguren für ein Spiel. Polierter Bernstein war hier nichts weiter als Schmuck und keineswegs die heiligen Tränen der gefangenen Abenddämmerung, und Blutholz war zu Schalen, Bechern und Kochutensilien verarbeitet worden.
Oder um eine protzige Kutsche auszustaffieren.
Durch einen Schlitz in den geschlossenen Läden beobachtete der Aufseher das wogende Hin und Her auf der Straße. Gelegentlich tauchte ein Tiste
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