Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Flug verstrichen. Meist stand Sally als Erste auf und ging als Erste zu Bett. Doch nachdem es gestern spät geworden war, ging sie an diesem Morgen alles etwas langsamer an.
Nachdem sie angekleidet war, trat sie hinaus in die frische Morgenluft. Mit raschen Schritten ging sie zu den Stallungen und strebte zur Box des ersten Pferdes – ein Tier, das sie noch zureiten musste. Beiläufig fragte sie sich, wie lange sie diesen Job wohl noch behalten konnte. Nur Savannah und Eddie ritten. Wenn Savannah tatsächlich eine Stelle im Ausland antrat, bestand dann überhaupt noch Bedarf an den Stallungen und den Pferden? Vielleicht empfahl es sich, dass sie sich nach neuen Möglichkeiten umschaute. Hier häuften sich die Tragödien, die Todesfälle. Es graute sie, wenn sie nur daran dachte.
Das Sägeklingen-Messer durchschnitt ihren Hals und durchtrennte die Halsschlag- und Drosseladern. Die Klinge drang so tief ein, dass sie auf ihrem halbmondförmigen Weg vom linken zum rechten Ohr sogar die Halswirbelsäule ritzte. Sally röchelte, wollte etwas sagen, fühlte das Blut auf ihr Hemd spritzen und riss in einer Mischung aus Schmerz und Fassungslosigkeit die Augen auf. Sie fiel auf die Knie; dann kippte sie vornüber aufs Gesicht. Im letzten Sekundenbruchteil ihres Lebens begriff Sally Wainwright voller Schrecken, dass jemand sie ermordete.
Der Mörder benutzte eine Harke, um Sally auf den Rücken zu drehen. Ihre toten Augen starrten den Täter an, ohne ihn wahrzunehmen. Die Harke sauste auf Sallys Gesicht hinunter und brach ihr das Nasenbein. Der zweite Hieb zerschmetterte einen Backenknochen; der dritte Schlag zertrümmerte die linke Augenhöhle. Als der Täter endlich von ihr abließ, hätte nicht einmal Sallys Mutter sie wieder erkannt.
Der Mörder verweilte noch einen Augenblick und warf Harke und Messer neben seinem Opfer auf den Boden. Seine Miene spiegelte Wut, ja Hass auf die Tote. Einen Moment später war Sally allein, während um sie herum ihr Blut das Stroh tränkte. Das einzige Geräusch stammte von dem Pferd, das gegen die Schwingtür der Box drängte und ungeduldig auf den Morgenausritt wartete – einen Ritt, der nun ausbleiben würde.
KAPITEL 70
Im winzigen Gästezimmer in Michelles kleinem Häuschen räkelte King sich im Bett. Während der Himmel aufhellte, hörte er Michelle in der Küche mit Geschirr klappern. Bei der Vorstellung, welchen Mischmasch sie jetzt wieder für ihn fabrizierte, schauderte es ihn. Ständig wollte sie ihn überreden, ihre Sportlerdrinks zu schlucken und Energieriegel mit wenig Kohlehydraten, keinen Kohlehydraten oder den richtigen Kohlehydraten zu futtern, wobei sie ihm verhieß, über Nacht eine wundersame Veränderung zu spüren.
Während in der Küche Töpfe schepperten, Wasser gluckerte und ein Mixer heulte, dachte King über die Mordfälle nach.
Sieben Tote, angefangen mit Rhonda Tyler bis hin zu Kyle Montgomery als letztem Opfer. Vorerst. King vermutete, dass in fünf Fällen derselbe Täter zugeschlagen hatte. Die Ermordung Bobby Battles und Kyle Montgomerys schrieb er jemand anderem zu. Ob beide wiederum von ein und derselben Person umgebracht worden waren, wusste er vorerst nicht.
Und jetzt wäre er beinahe selbst getötet worden – ebenso Michelle. Allem Anschein nach gab es eine Überfülle möglicher Verdächtiger, aber einen ausgesprochenen Mangel an Spuren. Im Zuge der Ermittlungen blieb der Täter ihnen offenbar stets um einen Schritt voraus: Sie hatten mit Junior reden wollen, doch der Mörder war ihnen zuvorgekommen. Sylvia hatte King über Montgomerys Tablettendiebstähle und die geheimnisvolle Frau im Aphrodisia informiert; als sie in dieser Sache Ermittlungen aufnahmen, war auch Montgomery getötet worden. Sally hatte King ein sexuelles Abenteuer mit Junior gestanden – kurz darauf hatte ein Anschlag auf sein Leben stattgefunden.
Mit einem Mal saß King kerzengerade im Bett.
Sally!
»Michelle«, rief er, doch das Geklapper übertönte seine Stimme. Er stand auf und wankte in die Küche. Sein Gleichgewichtssinn war noch gestört. Michelle stand am Spülbecken, zerschnitt eine Zwiebel und füllte sie in den Mixer, in dem sich eine gelblich grüne Brühe befand.
Sie drehte sich um und sah King. »Was treibst du da?«, fragte sie erschrocken.
»Wir müssen uns mit Sally befassen.«
»Sally? Warum?«
»Sie war gestern Abend bei mir und hat mir etwas gebeichtet. Nachdem sie fort war, habe ich mich gleich ins Bett gelegt. Danach muss jemand sich an
Weitere Kostenlose Bücher