Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
bekam.
Gerade noch rechtzeitig riss der Mörder sich zusammen. »Ich bin’s, mein Sohn, dein Vati. Geh wieder schlafen.«
»Ich dachte, du wärst fort, Vati.«
»Ich hatte was vergessen, Tommy. Leg dich wieder schlafen, bevor du deine Brüder weckst. Du weißt doch, wenn der Kleine aufwacht und plärrt, ist die Nacht gelaufen. Und gib Bucky einen Kuss von mir.« Er meinte Tommys Teddybär. Obwohl es ihm nicht gelang, die Stimme des Vaters genau zu treffen, wirkte es sicher beruhigend auf Tommy, dass er dessen Namen, die seiner Brüder und weitere familiäre Einzelheiten kannte.
Er hatte sich gründlich über die Robinsons informiert, wusste alles über sie, von den Spitznamen über die Sozialversicherungsnummern und ihr Lieblingsrestaurant bis hin zu den Sportarten, denen die beiden älteren Söhne, Tommy und Jeff, sich widmeten: Tommy spielte Baseball, Jeff Fußball. Er wusste, dass Harold Robinson das Haus kurz vor Mitternacht verlassen hatte, um nach Washington zu fahren; dass ihre Mutter die Kinder sehr liebte; dass er sie ihnen heute für immer genommen hatte. Es war allein aus dem Grund geschehen, weil Mrs Robinson das Pech gehabt hatte, in sein Blickfeld zu geraten, als sie Milch und Eier eingekauft hatte. Es hätte jeden x-Beliebigen treffen können. Irgendeine andere Mutter. Doch zufällig war es Tommys Mutter gewesen, Mutter auch des zwölfjährigen Jeff. Und des kleinen, einjährigen Andy, der in den ersten sechs Lebensmonaten unter Nierenkoliken gelitten hatte. Wie viel Persönliches die Leute doch ausplauderten, wenn man nur zuhörte. Es war erstaunlich. Aber heutzutage hörte niemand mehr zu, außer vielleicht Priester. Und Mörder wie er.
Seine Hand löste sich vom Messer in der Tasche. Tommy bekam die Chance, aufzuwachsen. Ein Robinson war genug für diese Nacht.
»Geh wieder ins Bett, mein Sohn«, sagte er mit Nachdruck.
»Ist gut. Ich hab dich lieb, Vati.« Der kleine Junge drehte sich um und entschwand in den oberen Flur.
Viel zu lange verweilte der Mann mit der Sturmhaube und starrte in die leere Luft, wo vorhin Tommy gestanden und den Satz gesprochen hatte: Ich hab dich lieb, Vati. Nun musste er die abschließende Aufgabe erledigen und sich absetzen. Ich hab dich lieb, Vati.
Mit einem Mal beschämte es ihn, sich im selben Haus mit dem Kind aufzuhalten, das so etwas zu ihm gesagt hatte, wenn auch irrtümlich. Er schalt sich selbst.
Nichts wie weg! Wahrscheinlich ruft der Ehemann gerade die Polizei an. Hau ab, du Idiot!
Im noch unfertigen Keller richtete er den Lichtkegel der Taschenlampe auf ein verdeckeltes Rohr, das den Standort einer künftigen Toilette kennzeichnete. Er schraubte den Deckel ab, entnahm seiner Tasche den Plastik-Einkaufsbeutel, der eine Anzahl verschiedenartiger Gegenstände enthielt, steckte den Beutel in das Rohr und schraubte den Deckel wieder auf. Wenn man Beweise hinterließ, durfte man weder zu offensichtlich noch zu geheimnistuerisch vorgehen.
Er schlüpfte zurück ins Freie, huschte durch den hinteren Teil des Gartens und strebte zu seinem mehrere Häuserblocks weiter geparkten VW. Erst als er abfuhr, zog er die Sturmhaube vom Kopf. Dann tat er etwas, das ihm noch nie in den Sinn gekommen war: Er fuhr geradewegs zu dem Haus, in dem er eben das vielleicht heimtückischste seiner Verbrechen verübt hatte. Die ermordete Mutter lag im Elternschlafzimmer. Tommy schlief in seinem Zimmer, hinter dem dritten Fenster von links. Um sieben Uhr standen die Kinder auf, um sich für die Schule fertig zu machen. War ihre Mutter dann noch nicht aus den Federn, gingen die Kinder zu ihr und weckten sie.
Er schaute auf die Armbanduhr. Es war ein Uhr morgens. Vor Tommy lagen vielleicht noch sechs Stunden der Normalität. »Genieße sie, Tommy«, murmelte der Mann in Richtung des dunklen Fensters. »Genieße sie… Es tut mir Leid.«
Während er davonfuhr, leckte er sich salzige Tränen aus den Mundwinkeln.
KAPITEL 82
Als Todd Williams mit Michelle telefonierte und ihr die Nachricht von Jean Robinsons Ermordung durchgab, war King bereits in einem Mietwagen abgefahren. Rings um das Horrorhaus standen etliche Polizei- und Ambulanzfahrzeuge, als Michelle dort eintraf. Entsetzte Nachbarn starrten aus Fenstern und von Terrassen herüber. Weit und breit war kein Kind zu sehen. Die drei Robinson-Sprösslinge und ihren Vater hatte man inzwischen ins Haus eines in der Nähe wohnenden Verwandten gebracht.
Michelle traf Todd Williams, Sylvia Diaz und Agent Bailey im
Weitere Kostenlose Bücher