Sean King 03 - Im Takt des Todes
Maschine noch ein wenig mehr nach unten. Michelle sah, wie die Erde beänstigend schnell auf sie zukam, hielt den Steuerknüppel jedoch nach vorne gedrückt. Plötzlich blitzten Albträume in ihrem Geist auf, die seit fast drei Jahrzehnten an ihr genagt hatten. Ein Kind … wie versteinert … aber was für ein Kind? Sie? Selbst vor ihrem geistigen Auge konnte sie dessen nicht sicher sein, und doch war der Schrecken, den sie empfand, vollkommen real.
Inzwischen schossen sie geradewegs nach unten, doch Michelle schien weder das schnell fallende Höhenmeter zu bemerken noch die Warntöne im Cockpit. Auch sah sie nicht, dass Champ mit aller Gewalt versuchte, den Steuerknüppel auf seiner Seite der Pilotenkanzel zu sich zu ziehen, und sie hörte auch nicht, dass er sie anschrie, sie würde das Flugzeug zum Absturz bringen, wenn sie den Sturzflug nicht beendete. Doch Michelle konnte den Steuerknüppel einfach nicht loslassen. Sie war wie elektrisiert. Sie hörte sich selbst sagen: »Leb wohl, Sean.«
Schließlich hörte sie durch den Nebel in ihrem Kopf endlich doch Champs Ausruf: »Loslassen!«
Michelle schaute zur Seite und sah einen kreidebleichen Champ, der mit aller Gewalt am Steuerknüppel riss, um die Maschine aus dem tödlichen Taumel zu befreien. Michelle riss die Hände vom Steuerknüppel, und es gelang Champ, das Flugzeug wieder in den Horizontalflug zu bringen. Dann legte er eine holprige Landung hin. Zweimal sprangen die Reifen auf, bis sie endlich sicher auf dem Boden waren.
Sie hielten an. Mehrere Minuten lang hörte Michelle nur das angestrengte Atmen des Mannes neben ihr. Schließlich schaute Champ sie an. »Alles in Ordnung?«
Michelle spürte, wie ihr die Galle hochkam. »Wenn man bedenkt, dass ich uns beide gerade fast umgebracht hätte, geht es mir ganz gut.«
»Ich habe schon öfter gesehen, wie Leute am Steuerknüppel förmlich erstarren. Tut mir leid, ich hätte Ihnen nicht die Kontrolle überlassen dürfen.«
»Sie haben nichts falsch gemacht. Es tut mir leid.«
Sie gingen gerade vom Flugzeug zu Champs Mercedes, als neben ihnen ein Motorrad hielt. Es war Horatio Barnes’ Harley. Der Fahrer nahm den Helm ab. Es war Sean King. »Ein wunderschöner Tag zum Fliegen, nicht wahr?«, sagte er.
»Was machst du denn hier?«, fragte Michelle.
Er warf ihr einen Ersatzhelm zu. »Lass uns fahren.«
»Danke für die Flugstunde, Champ. Ich fürchte, ich bin nicht mehr so recht in Stimmung für ein Mittagessen.« Sie stieg hinter Sean auf das Motorrad.
Nachdem sie den Privatflugplatz verlassen hatten und nach ein paar Minuten auf der Straße, bat Michelle Sean anzuhalten.
»Stimmt was nicht?«
»Tu es einfach«, drängte sie.
Sean fuhr an den Straßenrand, und Michelle sprang hinter einen Baum und übergab sich.
Eine Minute später kam sie kreidebleich zurück und wischte sich den Mund ab. Langsam stieg sie wieder aufs Bike.
»Waren die Himmel unfreundlich zu dir?«, fragte Sean.
»Nein«, antwortete sie träge, »nur ein kleiner Pilotenfehler. Was machst du hier eigentlich auf Horatios geliebter Harley?«
»Nur eine Spazierfahrt.«
»Und dabei bist du rein zufällig zu dem Privatflugplatz gekommen? Und das auch noch just in dem Augenblick, als wir gelandet sind?«
Sean drehte sich um und sagte wütend: »Du nennst das eine Landung? Ihr seid im Sturzflug runtergekommen. Ich dachte schon, das verdammte Propellertriebwerk wäre ausgefallen. Ich bin wie ein Bekloppter auf die Landebahn gerast und hatte schon Angst, deine Überreste vom Asphalt kratzen zu müssen! Was ist da oben passiert?«
»Irgendein Triebwerkproblem. Champ hat es behoben.« Michelle fühlte sich schrecklich, weil sie ihn anlog, doch sie hätte sich noch schlechter gefühlt, hätte sie ihm die Wahrheit erzählt. Und was war überhaupt die Wahrheit? Dass sie wie erstarrt gewesen war und dabei sich und einen Unschuldigen fast getötet hatte?
»Hast du gerade nicht etwas von einem Pilotenfehler gesagt?«
»Vergiss es einfach«, sagte Michelle. »Jede Landung, die man überlebt, ist perfekt.«
»Entschuldige, dass ich mir Sorgen um dich mache.«
»Und du bist also die ganze Zeit mit dem Motorrad durch die Gegend gefahren und hast uns beim Fliegen beobachtet?«
»Ich hab dir doch gesagt: Ich will nicht, dass du mit dem Kerl raufgehst.«
»Hast du geglaubt, ich könne nicht auf mich selbst aufpassen?«
»Fang jetzt nicht mit diesem Mist an. Ich war nur …«
Sie schlug ihm auf den Helm.
Weitere Kostenlose Bücher