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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sich gewaltiger Erfolge bei den nach weiblicher Zärtlichkeit ausgehungerten Frontkämpfern. Jeder wollte eines der koketten Frauenwunder wenigstens berühren und mit einem zärtlichen Namen ansprechen.
    Fast aus jedem Zug, der von Westen kam, stieg ein Krieger mit Ziehharmonika oder, öfter noch, mit einem erbeuteten Akkordeon und beglückte die tafelnden Menschen mit Liedern wie »Katjuscha«, »Die Erdhütte« oder »Drei Panzersoldaten«. Und von der Bahnhofswand blickte von einem riesigen Porträt der große Führer mit seinem Nachkriegslächeln auf das siegreiche Volk herab, der Generalissimus in der weißen Marschalluniform voller Orden.
    An den Wänden der Bahnhofsrestaurants und der Wartesäle hingen in unzähligen Varianten die Bilder »Kleine Bären« von Schischkin, »Der Birkenhain« von Kuindshi und »Jäger bei der Rast« von Perow, nachgedruckt von irgendwelchen Stümpern in unvollständigem Farbsatz.
    Auf den Bahnhöfen, Bahnsteigen und Vorplätzen der kleinen und größeren Städte längs der Eisenbahnstrecke herrschte ein buntes Gewimmel von Menschen aller in Russland möglichen Nationalitäten, Mundarten, Altersgruppen und sozialen Schichten. Die Menschen saßen auf Koffern, Truhen, Körben, sie schliefen auf Säcken und weiß Gott worauf noch. Der gewaltige Menschenschwarm lärmte, rumorte, schnarchte, mampfte, raschelte, zankte, lachte, brüllte – kurzum, lebte in fiebrigerErwartung seines Zuges. Auf diesem Basar bekam man alles nur Erdenkliche zu hören.
    »Ich verlier noch den Verstand«, klagte eine Frau einer anderen, »erst haben sie mir den Mann an die Front geholt, dann den ältesten Sohn, dann den mittleren und vierundvierzig auch noch den jüngsten. Ich krieg’s schon gar nicht mehr zusammen, eine Todesnachricht nach der andern. Bloß vom letzten ist noch keine gekommen. Und nun bin ich jeden Tag hier und warte. Wenn Gott will, krieg ich wenigstens den einen zurück.«
    In einer Gruppe stark angeheiterter Männer sprach ein langhaariger Opa einen Riesenkerl an.
    »Wenn ein Ukrainer kein Chochol ist«, schwadronierte er, »und ein Russe kein Iwan und ein Pole kein Pollack, dann bin ich ein Jude und kein Jidd. Hörst du, was ich dir sage, ich, Jewsej, hast du das verstanden, na?«
    »Halt den Mund, Jewsej, du hast zu viel gesoffen, und jetzt redest du lauter Scheiße, mach nicht solchen Wind hier«, sagte der Hüne, dem ein paar Finger fehlten, väterlich zu dem Opa.
    Auf einer Bahnhofsbank betuttelte ein Tantchen zärtlich ihren Mann, der keine Beine mehr hatte, und redete dabei auf ihre neidische pockennarbige Nachbarin ein.
    »Die Beine, das macht nichts«, sagte sie, »Hauptsache, der Schwanz funktioniert, ein Weib ist schlimm dran ohne Schwanz, das ist wie Wasser holen mit dem Sieb. Der Meinige redet wenig, dafür hat er gute Hände, die können alles. Wer keine Beine hat, läuft nicht weg, und reden werd ich. Schon vor drei Tagen bin ich hergesaust per Anhalter, um dich abzuholen, konnt’s gar nicht erwarten.Ach du mein Gott, mein Gott, Kommunist und Parteimann, und nun ohne Beine. Die Natschalniks im Kolchos haben mir versprochen, dich mit dem Auto abzuholen. Ach, mein Herz, mein Liebster. Doch wo hörst du hin? Ich klag dir was, und dich schert es nicht.«
    »Statt Liebesgesäusel gib ihm was zu essen. Der Mann kuckt mit dem Mund, der hört nichts.«
    »Keine Bange, keine Bange, er kriegt zu essen, den ganzen Korb voll hab ich mitgebracht, auch Selbstgebrannten. Unsre Tochter ist inzwischen groß geworden, die hat ihm Kuchen gebacken. Gute Hände hat er, die können alles, und statt der Beine wird er auf Räder gesetzt, nicht, Wassja? Ach, du mein Ärmster!«
    »Klawa, Klawa, gieß mir was ein, die Seele verlangt’s, hörst du, die Seele verlangt’s! Klawa …«
    Tagtäglich kamen Weiber jeglichen Alters hinzu; sie strömten zu den Zügen, nur um zu gaffen, mitzufühlen, zu beneiden, wer, was, wozu, warum … Da es kein Kino gab, guckten sie das Kino des Lebens. Die meisten hatten keinen Anlass, sie kamen nur so, um die durchreisenden Kriegsmänner zu betrachten oder teilzuhaben an der Freude über die Rückkehr eines Frontsoldaten in die Heimat. Oder einfach auf gut Glück, womöglich beglückte sie ja einer der Durchreisenden mit seinem Verlangen, seinem Märchen.
Die Gottesmutter
    Von all den kleinen Bildern hat mein Gedächtnis ein ganz überraschendes bewahrt. Eine kräftige junge Sibirierinhatte in einem Waggonfenster den Kopf ihres Mannes erspäht, sie sprang auf das

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