Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Japaner losschickte. Ohne einen einzigen Schuss abzugeben, erstachen sie mit Finnenmessern die japanischen Soldaten, die in den vordersten Gräben der Kwantung-Armee schliefen. Hinterher, so erzählte der Offizier, starben fast alle diese Häftlinge im Feuer unserer Truppen, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan und den Erfolg des sowjetischen Angriffs vorbereitet hatten. Ich weiß nicht, ob es so gewesen ist, doch als ich die Erzählung des Mannes hörte, erinnerte ich mich an den unheimlichen »lustigen« Zug auf den Omsker Gleisen und an den Ehernen Reiter Petrucha, der zum »Bubi« geworden war.
Den richtigen Ehernen Reiter bekam ich erst sieben Jahre später zu sehen. In Piter.
Bilder der Erinnerung
Von Omsk führten zwei Zweigstrecken nach Westen, zum Ural: die nördliche in Richtung Swerdlowsk, die südliche nach Tscheljabinsk. Ich konnte nicht wählen, wusste nicht mal, welche für mich besser war, und geriet in einen Zug nach Tscheljabinsk. Ich hatte einen Flachwagen mit leeren Containern bestiegen und fuhraus lauter Angst mit bis zur Station Issilkul, wo der Zug auf ein Abstellgleis gelenkt wurde, da musste ich mein Versteck verlassen. Mein Endziel war ja nicht Tscheljabinsk, sondern das ferne Petersburg. Ich trug die neue volkseigene Uniform, die weibliche Häftlinge zum Tag des Sieges genäht hatten. In den Hosentaschen hatte ich einen stibitzten Löffel, eine kleine Messerklinge, ein Katapult, das ich nachts im Kinderheim selbst gebastelt hatte, und zwei Knäuel Kupferdraht; die Drahtstücke waren genau so lang, dass ich daraus die beiden Profile biegen konnte – das vom Genossen Stalin und das vom Genossen Lenin.
Die Kunst, die Profile unserer Führer zu biegen, die ich mir im Kinderheim angeeignet hatte, rettete mich während meiner sechsjährigen Odyssee durch Städte und Dörfer, durch Kinderheime und Strafkolonien, von Sibirien bis Leningrad immer wieder vor dem Hunger. Auf Bahnhöfen, in Restaurants, Kantinen und Imbissbuden, auf Märkten und Basaren konnten die Frontkämpfer, die Sieger des Großen Vaterländischen Krieges, einem hungrigen Bengel etwas Essen nicht verweigern, zumal er vor ihren Augen aus Kupferdraht die Profile der geliebten Führer bog, insbesondere das des Generalissimus.
In diesen stürmischen Monaten der Völkerwanderung im Jahre 1945 lernte ich, je näher ich dem Ural kam, mehr und mehr die besondere Welt der Eisenbahn kennen. Vom Ural her bewegte sich in Richtung der japanischen Front eine gewaltige Kriegsarmada: endlose Züge mit Güterwagen voller Soldaten und Flachwagen mit Panzern, Geschützen und anderer Technik, unter Persenning oder nicht. In der Gegenrichtung, vom FernenOsten zum Ural und darüber hinaus, jagten Züge aus leeren Flach-, Kessel- und Güterwagen, um wieder beladen zu werden mit Waffen, Munition und Treibstoff, auch mit Soldaten. Der Krieg gegen Japan wurde vorbereitet. Verwundete kehrten aus dem Krieg nach Sibirien zurück, verspätet, weil sie in Lazaretten behandelt worden waren, Krüppel mit Arm- und Beinstümpfen, Soldaten und Offiziere mit verbrannten, entstellten, zernarbten Gesichtern – lebende Dokumente des Krieges. Auf jeder Bahnstation, jedem Haltepunkt wurden sie von heulenden Weibern empfangen, die sich ihre Lieben heraussuchten und nach Hause karrten.
Die Restaurants der großen Bahnhöfe stellten Tische und Stühle direkt auf den Bahnsteig, und kurz bevor ein Personenzug einfuhr, gossen die Kellnerinnen aus Kasserollen heißen Borstsch mit roten Beten, Traum jedes Magens, in weiße Suppenteller. Die Büfettfrau füllte derweil eifrig Biergläser, ließ den Schaum sich setzen und schenkte das goldgelbe Getränk nach.
Der Zug fuhr ein und warf hungrige Männer in Feldblusen und Uniformröcken aus. Die nahmen das Restaurant im Nu in Besitz und machten sich sogleich über den heimatlichen sibirischen Borstsch her. Bitten und Befehle schwirrten durch die Luft: »Kellnerin, noch ein Bier, mehr Borstsch, ihr Schönen, zwei große Bier und einen Salznapf.« Die Invaliden aller Schweregrade streuten vor dem Trinken eine Prise Salz ins Bier. Explosionsartig stieg der Schaum hoch, der Trinker verschwand dahinter und schluckte gierig die goldgelbe Süße des Lebens. Die Feinschmecker salzten den Rand des Glases, schwenkten es und schlürften das Bier über den würzigenRand. Mir kam der Gedanke, dass die vom Krieg verkrüppelten Menschen sich mit dem Salz über den Verlust ihrer Gliedmaßen hinwegtrösten wollten.
Die Kellnerinnen erfreuten
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