Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
der blitzschnell in Petruchas Magen. Ich konnte meistens nur zusehen, und wenn ich etwas abbekam, dann nur so viel, um zu überleben.
Mich zur Flucht zu überreden kostete ihn keine Mühe, zumal die Kröte mich wegen der Drahtprofile auf dem Kieker hatte. Der Krieg war zu Ende, und ich dachte, meine Matka Bronia wäre wieder in Leningrad, und ich könnte zu ihr zurück. Und wieder polnisch sprechen. Petrucha war der Reiter und ich der Schatten. Wir flohen auf einem Lastkahn, der Lebensmittel zu verschiedenen Orten am Irtysch brachte. Das NKWD-Kinderheim wurde auch beliefert, wir hatten oft beim Ausladen geholfen und die Lebensmittel von der Anlegestelle zur Küche geschleppt. Darum kannten wir uns bestens auf dem Schiff aus.
Unsere Reise mit dem Lastkahn bot wenig Interessantes. Wir hatten uns im Laderaum hinter leeren Lebensmittelkisten versteckt und schliefen zusammen mit denRatten. Wenn Ratten es warm haben und satt sind, werden sie nicht gefährlich. Der Eherne Reiter, der den mitgenommenen Proviant sofort verdrückt hatte, jammerte darüber, dass er den Mahlzeiten des Heims davongelaufen war, aber jetzt war es zu spät.
Wir litten unter Kälte und Hunger und anderem ungemach, da legte der Lastkahn endlich in Omsk an. Petruchas Talent führte uns zum Bahnhof der Stadt. Er witterte, dass es dort was zu essen geben würde, außerdem könnten wir mit der Eisenbahn nach Westen fahren, in mein Piter. Wir landeten aber nicht direkt auf dem Bahnhof, sondern auf den Rangiergleisen und standen auf einmal zwischen lauter Zügen mit Soldaten, die, wie wir mitbekamen, von der deutschen zur japanischen Front fuhren. An die Züge wurden Omsker Waggons angekuppelt. Unerwartet stießen wir auf einen sonderbar lustigen Zug, der anders war als die übrigen, denn er war »besoffen«. Hinter den vergitterten Fensterchen sahen wir geschorene Soldatenköpfe, die gierig alles beobachteten, was draußen vorging. Nur ein Waggon war offen, und darin fand ein wildes Gelage statt. Das sind bestimmt die Natschalniks, dachten wir.
Die drinnen bemerkten uns, genauer, mich.
»Seht mal, ein schwindsüchtiger kleiner Zugvogel«, hörte ich.
»He, Jungchen, hast du nichts zu essen gekriegt?«, fragte ein anderer, Angetrunkener.
Petrucha, der hinter mir stand, begann sogleich zu klagen, wir seien schrecklich ausgehungert, und ob die Onkels nicht was zu essen für uns hätten?
»Seht mal, da ist ja noch ein Jungchen, und so einrosiges! He, du, Bubi, was versteckst du dich hinter dem Strichmännchen!«, krächzte der Oberste von denen. »Du stehst ja gut im Futter. Hast wohl alles deinem Kumpel weggefressen, darum bist du solch ein Pummelchen. Ein richtiger Bubi! Na, komm schon her, mein Liebchen, klettere rein zu uns! Kriegst auch schön zu essen. Und bring deine Hungerlatte mit.«
Sie alle trugen Soldatenuniform, sahen aber anders aus als die normalen Soldaten, sie benahmen sich äußerst ungezwungen und hatten wohl in dem »lustigen« Zug das Sagen. Sie soffen, klopften Karten und scherten sich den Teufel um die Bewacher.
Wir bekamen zu essen, und mir fiel auf, dass die Kerle Petrucha mit geilen Blicken musterten, ihn sogar zwickten und ihm den Hintern tätschelten. »Was für einen knackigen Arsch er sich angefressen hat, wirklich«, sagte einer. Ich witterte Unheil und stieß meinen Kumpel ein paarmal an, aber er war am Mampfen und reagierte nicht. Die Kerle hatten tätowierte Arme, und ich ahnte, dass ihr Kartenspiel was mit uns zu tun hatte, das heißt, mit Petrucha, mein verdächtiger Husten schreckte sie wohl ab. Noch einmal stieß ich Petrucha in die Seite und wollte mit ihm austreten gehen, doch er futterte gierig weiter. Da gab ich es auf, ihn vor der Gefahr zu warnen. Hustend sagte ich zu den Männern, ich müsse mal raus, pinkeln, und suchte entsetzt das Weite. Ich floh vor dieser Art Fütterung, floh vor dem Wort »Bubi«, dessen schrecklichen kriminellen Sinn ich bald nach dieser Geschichte begriff. Ich floh vor dem Unheil, floh in Richtung Leningrad und wusste nicht, dass dort der Eherne Reiter stand.
Viel später, schon als Erwachsener, erfuhr ich von einem Offizier, dass Marschall Malinowski, Befehlshaber der Transbaikalischen Front und früher selbst ein Krimineller, während des Japan-Feldzugs gleich in der ersten Nacht des Krieges, ohne die Führung zu informieren und ohne Artillerievorbereitung, in aller Frühe eine Truppe Berufsverbrecher, die er aus Lagern und Gefängnissen hatte zusammenholen lassen, gegen die
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