Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
erkennen, besonders die erhöht thronende Kröte. Im Vergleich zu ihr sahen wir Zöglinge aus wie Liliputaner eines einzigen Wurfs.
    Am 9. Mai mussten wir im Hof feierlich antreten, und jedem wurde zum Tag des Sieges das Geschenk vonBerija überreicht: ein persönliches Einzelfoto in einem Armeekuvert. Dieses Foto war für jeden von uns das erste Eigentum. Ich brachte es fertig, mein Foto durch die schlimmen Jahre zu retten und zu bewahren.
    Als ich im August aus dem Kinderheim in Richtung Piter floh, hatte ich im Revers meiner Jacke mein Foto eingenäht, und in den Hosentaschen lagen zwei Knäuel Kupferdraht, eines für das Stalinprofil, eines für das Leninprofil. Meine Führer in Draht halfen mir zu überleben, aber das ist schon eine andere Geschichte.

Zweiter Teil

FÜHRER IN DRAHT

    Hab kein Zuhause, hab kein Nest,
    bin wie ein loses Blatt im Wind.
    Ach, Schicksal, du mein böses Schicksal,
    was machst du mit mir armem Kind?
    Lied der Waisenkinder

Der Eherne Reiter
    Mascha Kuhfuß besaß eine Ziege, die stets auf einer Lichtung hinter der Küche graste und auch Laub und Brennnesseln und Sonstiges
     nicht verschmähte. Wir trieben uns häufig dort herum und machten der Gehörnten Konkurrenz. Außerdem hatten wir Jungs dort ein großartiges Vergnügen, das nannten wir »die Zicke reiten«. Glauben Sie nicht, das wäre einfach, nein, überhaupt nicht, es war äußerst
     schwierig. Ich zum Beispiel habe es kein einziges Mal geschafft. Aber ich zählte nicht, denn ich war gar zu dünn und leicht.
     Doch auch von den andern glückte es kaum einem. Die Ziege warf das Hinterteil so heftig und ruckartig herum, dass der jeweilige Reiter hochflog und im Gras landete, und wer besonders ungeschickt war, bekam ihre Hörner schmerzhaft zu spüren. Dennoch war es für uns ein großer Spaß. Den größten Erfolg dabei
     hatte Petrucha der Älteste (wir hatten noch zwei Petruchas – den zweiten und dritten).
    Neider behaupteten, das liege an seinem schweren Arsch. Ich aber sah, dass er einfach Geschick hatte: Er nahm Anlauf, packte
     die Ziege bei den Hörnern und schwang sich mit einem Sprung auf ihren Rücken. Dabei knickten ihre Hinterbeine ein. Kurzum,
     Petrucha galt alsder beste Reiter, wir waren stolz auf ihn und hatten großen Respekt vor ihm. Er selbst wusste um seine Bedeutsamkeit und wurde von den Jungs als Chef anerkannt. Außerdem wurde er schon zehn.
    Eines Tages waren wir alle hinter der Küche auf der Weide und spielten wie immer »Ziegenreiten«, da erschien plötzlich in der Küchentür die Kröte. Auf der Ziege thronte in diesem Moment in Siegerpose Petrucha. Die NKWD-Künstlerin packte ihn sofort am Ohr, zog ihn vom »Ross« und zerrte ihn, das Ohr drehend, in ihr Arbeits- und Atelierzimmer, wobei sie quäkte: »Du Eherner Reiter, ich mach dir jetzt einen Einlauf, dass du denkst, der Teufel hat das Klistier gehalten.« Wir wussten damals nichts vom Ehernen Reiter, keiner von uns hatte ihn je gesehen, nicht mal im Traum. Aber der neue Spitzname passte zu unserm Petrucha, und fortan hieß der nur noch der Eherne Reiter.
    Mit ihm bin ich aus dem Kinderheim Richtung Heimat geflohen – nach Piter, das heißt, nach Leningrad. Genauer, er ist mit mir geflohen, denn ich war ja der Schatten. Die Jungs hatten mich so getauft, weil ich dürr und durchsichtig war. Er war der Reiter, noch dazu der Eherne, und ich nur der Schatten, aber wir türmten zusammen aus Tschornyje Lutschi am Irtysch, unweit der Stadt Omsk.
    Er hatte zwei Gründe für die Flucht. Der erste war natürlich die Kröte, die er hasste, weil sie ihn gequält und gedemütigt hatte. Der zweite und wichtigere war, dass er im Kinderheim nicht genug zu essen kriegte, wie er fand, dabei aß er viel mehr als wir. Aber er bildete sich ein, dass man ihn anderswo, besonders in Leningrad, vielbesser ernähren würde, denn es gingen Gerüchte, dass die Leute dort nach den Hungerjahren des Krieges jetzt reichlich zu essen hätten. Und da wir auch gehungert hatten, würden wir dort bestimmt gut verpflegt werden.
    Petrucha war ein talentierter Beutejäger mit einem kolossalen Gespür für Essbares. Es war unerklärlich, wie er witterte, wo eine Mahlzeit für ihn abfallen würde. Mich führte er mit Erfolg als ein »Opfer des Hungers« vor. Ich glaube, er hat mich nur wegen meiner Unterernährung auf die Flucht mitgenommen, denn angesichts eines »Schattens« wie mir kam ein Esser nicht umhin, uns was abzugeben. Und kaum hatten wir unsern Anteil bekommen, verschwand

Weitere Kostenlose Bücher