Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Streckendienst ab.« Kaum hatte der Schaffner abgeschlossen, sagte ich zu meinem Leidensgefährten, ich hätte einen Bahnschlüssel, und wir könnten abhauen. Wenn der Zug sich der Station nähere, würden wir die Tür öffnen, raus aufs Trittbrett klettern und, wenn der Zug bremste, abspringen und verduften.
»Ich kann aber nicht springen.«
»Wieso nicht, ist doch ganz einfach, wir sind im hintersten Waggon, und wenn der den Bahnsteig erreicht, springst du.«
»Ich bin blind … der blinde Mitja, ich kann nicht springen.«
Nach diesen Worten, ich hatte mich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, sah ich in dem durch eine Ritze sickernden Licht, dass sein Gesicht entstellt war. Die linke Augenhöhle war leer, aus der rechten ragte unterhalb einer Stirnnarbe etwas heraus.
»Hat der Mistkerl dich so zugerichtet? Wofür hat er dich eingesperrt?«
»Fürs Singen, ich hab gesungen und um was zu essen gebeten. Ich war in allen Waggons, keiner hat mir was getan, die Schaffnerinnen haben mir sogar Brot gegeben, aber der hat mich beim Kragen gepackt und eingesperrt.«
»Dieser Dreckskerl! Aber keine Bange, den legen wir rein. Wenn der Zug anfängt zu bremsen, mach ich dieAußentür auf, stell mich auf die unterste Stufe und helf dir, nehm dich beim Springen an die Hand. Dann laufen wir um den Waggon herum und verstecken uns hinter den anderen Zügen. Ich hab schon Erfahrung. Hauptsache, er holt uns nicht vorher.«
»Wie heißt du denn?«, fragte der Blinde.
»Dem Vater nach Stepanowitsch. Wenn wir das Schlüsselloch verstopfen, hat er eine Weile zu tun, und wir können derweil abhauen. Ich werd versuchen, die Waggontür von außen abzuschließen, dann wird er verrückt. Mitja, bist du aus der Gegend hier?«
»Nein, aus dem Nowgorodschen.«
»Prima! Dann können wir zusammen weiterfahren. Ich bin aus Leningrad, das ist nicht weit davon. Und wie bist du nach Sibirien gekommen?«
»Als wir evakuiert wurden, haben deutsche Flugzeuge unsern Zug zerbombt. Meine Mutter und mein kleiner Bruder sind umgekommen, und ich hab auch was abgekriegt, du siehst ja. Meine Tante ist am Leben geblieben, die hat mich nach Sibirien gebracht. Bei Nowosibirsk haben wir gelebt. Zuerst hatte ich’s ganz gut bei ihr, sie hat mir zu essen gegeben. Später, gegen Kriegsende, hat sie sich mit einem Milizionär zusammengetan. Da hat sie mir jeden Bissen vorgehalten und mich Schmarotzer genannt. Schließlich bin ich weg. Auf den Märkten hab ich Lieder gesungen und bei fremden Leuten in der Diele geschlafen. Jetzt ist der Krieg zu Ende, und nun will ich nach Hause, Opa und Oma sind dortgeblieben, vielleicht leben sie ja noch. In Nowosibirsk hat ein alter Bettler mir Eisenbahnlieder beigebracht. Mein Blindenführer wollte er sein, doch dann hat er das ganze Geld fürsich genommen und versoffen. Ich bin ihm weggelaufen. Mein rechtes Auge kann noch bisschen sehen, da dacht ich, ich werd’s schon schaffen. Jetzt bringt meine Arbeit mehr ein. Und wovon lebst du?«
»Ich kann Kunst. Aus Draht bieg ich die Profile der Führer, und die Leute können dabei zusehen. Die Soldaten von der Front mögen das, und da geben sie mir zu essen, manchmal auch Geld.«
»Das ist ja gut! Und wie machst du das?«
Ich holte das Stalin-Knäuel hervor und hielt ihm nach einem Weilchen das Porträt des Generalissimus hin. Er befühlte es und sagte: »Toll, ganz toll!«, und dann schlug er mir vor: »Was meinst du, Stepanowitsch, wollen wir nicht zusammen auftreten? Du biegst die Führer, und ich sing Lieder über sie. Na? Lass es uns doch versuchen. Ich kenn drei Lieder über Stalin. Zu zweit ist es leichter und auch sicherer, denn an mich haben sich dauernd Bettler rangemacht – vorige Woche hätten sie mich beinahe verstümmelt. Ich sollte für sie arbeiten.«
»Keine Angst, Mitja, dafür hab ich ein Katapult, ich kann die auch verstümmeln.«
Beim nächsten Halt flohen wir, liefen um unsern Waggon herum, schlüpften unter zwei stehenden Militärtransporten hindurch und gerieten auf die freie Seite der Station, wo nur ein paar Schuppen standen. Ich blickte suchend die Gleise entlang und sah auf dem äußersten Strang leere Güterwagen. Solche hatten mich schon mehrmals gerettet. Mitja und ich liefen hin und verkrochen uns in einem Waggon. Bis zur Nacht durften wir uns nicht draußen zeigen. Der Schaffner hatte bestimmt Alarm geschlagen und uns den Stations-Natschalniksbeschrieben. Die Polypen würden alle Gleise absuchen. Gottlob dämmerte es schon, nachts im
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