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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Trittbrett des noch rollenden Zuges, stieß die Traube der Soldaten im Vorraum auseinander und drang ins Innere. Bald darauf, der Zug stand inzwischen, erschien die bildschöne, schwarzäugige Frau in der Türöffnung des Wagens, sie hielt in den Armen wie ein Kind einen beinlosen, einarmigen Körper im gestreiften Matrosenhemd.
    »Verzeih mir, Njuscha, ich hab mich nicht in Acht genommen …«, sagte er im Bass. Er hatte seiner Trägerin den einzigen Arm um den Hals gelegt und sah sie mit seinen blauen Augen schuldbewusst an.
    »Gottesmutter, Gottesmutter, Jesuskind«, heulte bei diesem Anblick, sich bekreuzigend, ein ewig betrunkenes Bettelweib und plumpste vor dem Waggon auf die Knie.
    Die Menge erstarrte.
    Zwei Uniformierte hoben die »Gottesmutter« mit ihrer Bürde behutsam vom Trittbrett des Waggons und stellten sie auf den Bahnsteig. Die schwarzäugige Frau schritt auf die auseinandertretende Menge zu und trug ihr verstümmeltes Christkind durch die Gasse, heulend und zugleich freudig lachend.
    »Der Krieg«, hauchte jemand.
Die erste Ration
    Als ich in Issilkul ankam, war ich ganz ausgehungert nach der Fahrt. Über die mit Militärzügen verstopften Gleise strebte ich zum Bahnhofsgebäude in der hoffnung, Essbaresaufzutreiben. In den offenen Waggontüren standen Soldaten. Sie bemerkten mich.
    »He, Kleiner«, riefen sie, »was treibst du dich hier rum?«
    »Zum Bahnhof will ich, mir was zu essen verdienen.«
    »Und womit willst du’s dir verdienen?«
    »Mit Kunst.«
    »Mit was denn für Kunst?«
    »Die Profile der Führer kann ich biegen.«
    »Was? Biegen – wie denn? Zeig’s uns.«
    »Wenn ihr mir zu essen gebt, zeig ich’s.«
    »Du kriegst was, keine Bange.«
    Ich zog das Stalin-Drahtknäuel aus der rechten Hosentasche und begann vor ihren Augen, daraus den Führer zu biegen. Während ich arbeitete, beobachteten die Soldaten schweigend meine Hände. Als ich fertig war und ihnen das Ergebnis zeigte, gaben sie zu, dass mein Stalin genauso aussehe wie auf den Medaillen, und belohnten mich mit einer guten Ration – einem fast ganzen Laib Brot und einem köstlichen Streifen Speck.
    »Wo stammst du her?«
    »Aus Leningrad, ich will mit meiner Matka zurück nach Hause, aber sie ist krank geworden, und ich muss was zu essen besorgen.«
    Am Abend gelang es mir, in einer Kantine unweit des Bahnhofs noch was zu verdienen. Mit Nahrung versehen, schlich ich mich bei Nacht in den Personenzug nach Kurgan und schlief auf der Gepäckablage des Holzklassewagens zwischen Körben, Koffern und Bündeln. Meine Flucht von Omsk ging weiter – immer nach Westen.
Der Miliz entwischt
    Am Morgen erwachte ich von Lärm. Unten im Waggon wurde gefilzt. Eine Patrouille der Bahnmiliz durchsuchte zusammen mit Zugschaffnern die Abteile. Wie durch ein Wunder gelang es mir, von meiner Gepäckablage zwischen den Rohren unter der Decke in den bereits gefilzten Teil des Waggons zu schlüpfen, und beim nächsten Halt kletterte ich runter in den Gang und stieg mit den anderen Fahrgästen aus. Es war ein ziemlich großer Bahnhof, und ich beschloss, erst mal hier zu bleiben, zumal mein Zug noch von der Patrouille durchkämmt wurde. Den Tag verbrachte ich mit neugieriger Umschau. Ich ging auf den Markt und blieb stehen bei einem Mann, der aus schwarzem Papier nach lebenden Vorbildern Profile schnitt, und das so gekonnt, dass ich neidisch wurde. Dieses Handwerk hätte ich erlernen mögen! Die Nacht verbrachte ich im Wartesaal, wo ich mich zwischen zwei kinderreiche Familien mogelte. Ich zog mir die Jacke über den Kopf und schlief. Mein harmloses Gesicht und der Haarschnitt mit dem Pony, den mir Marschall Berija zum Tag des Sieges beschert hatte, machten mich unauffällig und weckten bei dem Bahnhofsvolk keinen Verdacht. Und wenn mich wer fragte, wieso ich allein auf dem Bahnhof sei, log ich: »Meine Mama haben die Ärzte weggeholt, um sie zu kurieren, und wo soll ich hin, wir sind nicht von hier, wollen zurück nach Piter.« Viele bedauerten mich und gaben mir zu essen, als gehörte ich zur Familie.
    Am Morgen wollte ich mich in den zweiten Waggon eines Personenzugs schleichen, der in Richtung Uralfuhr, und fiel mangels Erfahrung der schwarz-rosa uniformierten Bahnmiliz in die Hände. In der Wachstube schwindelte ich wieder: Auf der Fahrt von Nowosibirsk wäre meine Großmutter gestorben, und nun versuchte ich, ohne sie nach Piter zurückzufahren. Am nächsten Tag führte mich ein junger Greifer in die Kantine (bei der Miliz bekamen die

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