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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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vor mich hin, und genau in dem Moment entgleiste die Straßenbahn. Das hatte ich noch nie gesehen. Wie eine Modelleisenbahn hüpfte sie einfach vom Gleis, und ein Wagen stand mitten im Schnee.
    »Mir ist kalt«, hörte ich die Blonde stöhnen. Sie hatte ebenfalls nur ein langärmliges T-Shirt an. Langärmlige T-Shirts waren offenbar angesagt. Fruit of the Loom stand auf ihrem drauf.
    »Die Straßenbahn ist entgleist«, sagte ich.
    Vor der Paulanerkirche standen die Fahrgäste und der Schaffner, gestikulierten und wurden weiß. Ihre Stimmen wurden von den Flocken verschluckt.
    Nicht aber die Stimme der Blonden. »Was is’n das für ein Schaaß?«, quäkte sie.
    Meinte sie die Straßenbahn, den Schnee oder mich? Jedenfalls nutzte ich ihre Wachphase sofort aus und sagte bestimmt: »Wir gehen jetzt. Ich halte deine Freundin, aber du gehst selber!«
    Und so ging ich los, die Rothaarige im Arm. Die andere stolperte hinter uns her.
    »Wir gehen in die Girardigasse«, lautete mein Kommando. Das Ganze hatte etwas von Doktor Schiwago oder Krieg und Frieden , irgendwas Russisches jedenfalls, mit Omar Sharif und Pelzmützen und Muffs und viel Frost. Ich summte die Schiwago -Melodie, während meine Schritte im Schnee knirschten. Doktor Schiwago für Arme.
    »Was singstn du den Dritten Mann ? Ois a Touristenschaaß«, meckerte die Blonde.
    »Das ist Doktor Schiwago . Kein Touristenscheiß. Tolstoi.«
    »Na! Krieg und Frieden ist Tolstoi, Doktor Schiwago nicht. Aber was du da pfeifst, ist eh der Dritte Mann . Pfoah, is mir schlecht.«
    »Nicht in den Schnee«, schnaufte ich sie an. »Der ist so … weiß.«
    Wir überquerten die Operngasse. Die Ampeln waren ausgefallen und blinkten nur gelb. Das gelbe Licht spiegelte sich im Schnee.
    »Schön, was?«, sagte ich.
    »Ja, toll, Schnee halt«, erwiderte die Blonde. Klar, sie war abgebrühter. Für sie war Schnee so alltäglich wie für mich Nieselregen.
    Ein Radfahrer fuhr lautlos an uns vorbei. Mitten durch den Schnee, mitten auf der Operngasse, kein einziges Auto weit und breit. »Tot?«, rief er lachend und meinte damit wohl die Rothaarige, die ich leblos im Arm hielt. »Eh a schöne Nacht zum Sterben«, rief er noch und hielt den Daumen nach oben.
    Ich nahm die Rothaarige wieder in die Zementsackhaltung, und sofort trat sie mir in die Kniekehle. Ich erinnerte mich an die Wassertropfenfolter, von der ich kürzlich gelesen hatte: immer ein Tropfen Wasser auf dieselbe Stelle, stundenlang. Hatte ich noch nie ausprobiert, aber die Kniekehlenfolter schlug in die gleiche Kerbe. Bei einem besonders heftigen Tritt schrie ich auf und knickte entkräftet ein. Wir landeten zusammen im Schnee. Befreit von der Last und dem Schmerz lag ich dort, im weichen Weiß. Kurz war ich glücklich.
    Die Flocken fielen mir in die Augen, und die Blonde fragte ungerührt: »Und jetzt?«
    Die Rothaarige schlug die Augen auf und sagte: »Gemma ins ›Trabant‹. Die ham an super Marillenschnaps.«
    »Marillen Monroe«, murmelte ich und las auf einem Schild vor einer Torausfahrt: Das Tor muss immer geschlossen bleiben. Oder offen.
    Das »Trabant« war ein enger Schlauch. Dicht gedrängt standen die Leute vor der Bar. »Im ›Flieger‹ gibt’s zwei Tequila zum Preis von einem, aber hier gibt’s besseren Marillenschnaps.« Die Rothaarige schien plötzlich wieder lebendig zu sein. Sie schüttelte ihr verschneites Haar und lächelte mich an. »Ist das deine Jacke? Mah, lieb«, sagte sie, beugte sich vor und küsste den lockigen Mann neben mir.
    »Das Bier ist lauwarm. Erkälten werd ich mich dadurch nicht«, knurrte er und rieb sich seinen Dreitagebart.
    Die Rothaarige schmiegte sich an ihn. »Wenn’s kalt ist, magst du es auch nicht. Vielleicht solltest du gar keins trinken. Bier ist vielleicht nichts für dich, mein Schatz.« Sie bestellte vier Marillenschnäpse, und am nächsten Morgen wachte ich in der Girardigasse auf. Eine dicke Katze saß auf meinem Bauch. Die Rothaarige und der Biermann hatten neben mir im Bett Sex. Ich verhielt mich ruhig. Die Katze sah mich boshaft an. Vielleicht spürte sie, dass ich Katzenallergie habe. Ich wollte meine Gastgeber wirklich nicht stören, ich war Gast in diesem Bett, in diesem Raum, dieser Stadt, diesem Land, ich wollte die inländische Paarung nicht unterbrechen, aber ich spürte das Kratzen im Hals, meine anschwellende Nase. Und während die beiden neben mir immer heftiger kopulierten, drohte auch meine Nase in einem gewaltigen Orgasmus zu zerplatzen.
    »Tschiah!«

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