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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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ich kenn sie zwar, aber nur, ich weiß nicht, sie ist mit dem Hund an mir vorbei.« Wieso er dachte, ich gehöre zu der alten Frau, war mir rätselhaft.
    »Wissen Sie, wie viele Hunde es in Wien gibt? Hunderttausend Hunde kacken uns zu, verstehen Sie? Die Straßen ein reines Fäkalientrottoir, pfui. Wissens, was so ein Hund am Tag scheißt?«
    »Nein, puh, keine Ahnung«, keuchte ich, immer noch im Sitzen. »Wie viel denn?«
    »Wie viel? Weiß ich nicht, aber zu viel. Die Stadt ist die Stadt des Hundes, man muss sich zurückziehen, hierher, in seine eigenen vier Wände, nur hier hat man seine Ruhe, ganz Wien ist ein vollgeschissner Zwinger. Aber wenn ich jetzt nicht einmal mehr daheim meine Ruhe hab, wissens? Es ist eine Arschpartie, das Leben!«, lamentierte er.
    Der Mann tat mir leid. Ich wusste nicht genau, was sein Problem war, aber dass er eines hatte, war offensichtlich.
    »Entschuldigung, geht’s hier auch irgendwo raus?«, fragte ich vorsichtig. Der Schnaps hatte meine Zunge pelzig gemacht, sie fühlte sich dicker an, als ich sie in Erinnerung hatte.
    »Auf die Straße? Zu den gschissenen Hundsviechern wollen Sie?«
    Ich bereute sofort, gefragt zu haben. »Ich verstehe das nicht, ich bin neu hier, ich weiß nicht, wieso ich nicht vom ersten Stock nach unten komme. Ins Erdgeschoss. Bei uns kommt unter dem ersten Stock immer das Erdgeschoss.«
    »Gurt«, sagte jetzt auch er. Was war das nur für ein Teufelsgesöff gewesen? Waren hier alle neben der Spur, mich eingeschlossen?
    »Unter’m ersten Stock ist das Hochparterre, dann kommt’s Mezzanin, da unten, sehen Sie?« Er zeigte nach unten. Ich rutschte auf dem Hintern näher ans Geländer und sah, was er sah. Die Reste der Blonden.
    »Da hat wer hergspiebn! Es derf net woar sein. Hure!« Mit dem Wort »Hure« schmiss er seine Tür zu.
    Ich wusste nicht, ob er vielleicht mich mit »Hure« meinte, aber es war mir auch egal. Ich fand, »Hure« passte als wütender Ausruf ganz gut zu diesem ganzen Abend.
    Endlich waren wir unten. Ich wuchtete die beiden komatösen Frauen durch die Eingangstür und erstarrte vor Kälte. Auf der Straße wehte ein eisiger Wind, Schneeflocken fielen auf die Schleifmühlgasse. Das hatte ich in Düsseldorf auch ab und zu mal gesehen. Aber anders als in Düsseldorf blieben sie hier auch liegen. Es lag tatsächlich Schnee! Anfang Oktober! Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte eine Jeansjacke an, wie sie in der niederrheinischen Tiefebene für den Herbst fast übertrieben scheint. Dort braucht man Kleidung gegen Nebel und leichten Niederschlag, aber das hier war wie eine Liveschaltung zu den Olympischen Winterspielen.
    Die Autos waren komplett unter Schneebergen begraben, am Straßenrand waren große Schneewehen, darunter waren wohl Fiestas, Golfs und Ford Taunusse. Verrückt, dachte ich. Verrückt und angenehm schön. Hätte ich nicht die beiden betrunkenen Mädchen im Arm gehabt, wäre es geradezu kitschig gewesen. Girardigasse, dachte ich, während mir die dicken Flocken wie Watte auf den Kopf fielen.
    Ich lehnte die Mädchen vorsichtig gegen ein Blumengeschäft, sagte sanft »Gurt« zu ihnen und zog meinen Stadtplan hervor. Ich hatte Glück, die Girardigasse war ganz in der Nähe, auf der anderen Seite des Naschmarkts. Ich sah mir meine beiden neuen Freundinnen an. Die ersten Wienerinnen meines Lebens. Nicht schlecht, dachte ich.
    »Könnt ihr nicht doch gehen?«, fragte ich, aber nichts deutete darauf hin.
    Ich sah nach rechts, wo eine Straßenbahn vorsichtig um die Ecke bog und wie ein Schneepflug den Schnee aus den Schienen schob. Ob die hier andere, spezielle Straßenbahnen haben?, fragte ich mich, so wie die in Kanada andere Schiffe haben müssen, alles Eisbrecher, sonst kommen die kanadischen Schiffe ja gar nicht durchs gefrorene Meer, andere Schiffe als zum Beispiel am Niederrhein, die brauchen das nicht, die brauchen nicht mal Licht, weil das Ruhrgebiet nachts aus vielen Schornsteinen leuchtet, und die Straßenbahnen in Düsseldorf müssen sich nie durch Schnee kämpfen, vielleicht einmal in hundert Jahren, 1929, das war ein strenger Winter, aber gab’s da überhaupt schon Straßenbahnen?
    Die Rothaarige hatte nur ein langärmliges T-Shirt an. Ich legte ihr meine völlig eingeschneite Jeansjacke um die Schultern. Wie der heilige Martin, dachte ich, dabei hatte ich die Jacke natürlich nicht mit meinem Schwert in zwei Teile geteilt.
    Im Schnee, da saß ein armer Mann, hatt’ Kleider nicht, hatt’ Lumpen an, summte ich

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