Sechs Richtige und eine Falsche: Roman (German Edition)
ihr Hund an der Leine. Ein undefinierbarer Mischling mit langem schwarzem Fell.
»Bonny, nicht so schnell. Normalerweise ist sie gar nicht so. Sie muss bloß so dringend«, erklärte Frau Resche ungefragt.
Mit Frau Resche und ihrem Hund verhielt es sich ähnlich wie mit Müttern und ihren Kindern. Sie verteidigten vehement die schlechten Manieren, die sie den Kleinen über die Jahre selbst anerzogen hatten. Sicherlich wäre es weniger anstrengend, ein einziges Mal dem Kind oder dem Hund Nein zu sagen, anstatt sich ein Leben lang bei Fremden für das Balg zu entschuldigen.
Dass Bonny eigentlich ein total gut erzogenes Tier war, merkteman jedes Mal, wenn es bei Resches an der Haustür klingelte und der Hund in ohrenbetäubendes Bellen ausbrach.
»Sie beschützt uns alle nur! Außerdem muss sie das noch lernen«, verteidigte meine Nachbarin dann ihren kleinen Kläffer. Das tat sie seit elf Jahren, so lange lernte Bonny schon.
Als Bonny zu Frau Resche kam, hatte meine Mutter noch gelebt. In diesem Haus Nummer 182 war ich groß geworden, ich war mit Frau Resche aufgewachsen und mit Bonnys Vorgängern: Frido, Carlo und Benji. Sie alle hatten gekläfft, was das Zeug hielt, sie alle waren »sonst eigentlich nicht so«, sie alle mussten noch lernen, und sie alle bekamen vorne und hinten Hundekuchen hineingestopft. Das Gejaule und Gewinsel der Hunde hatte meine Mutter beim Malen schier um den Verstand gebracht. »Ins Grab« wollte ich nicht sagen. Dorthin hatte sie der Krebs gebracht. Die Wohnung hatte ich übernommen, war also mit meinen dreiunddreißig Jahren noch nicht ein einziges Mal umgezogen. Da die Wohnung mit vier Zimmern groß genug war, hatte ich das kleine »Künstleratelier« meiner Mutter nicht angerührt, die fertigen Bilder, Pinsel, Farbpaletten und die Staffelei standen dort wie am Tag vor ihrem Tod. Ich selbst hatte mit Kunst nicht so viel am Hut, hatte meiner Mutter bloß stets ehrfürchtig zugestimmt, dass das Atelier ein lichtdurchfluteter Kreativtraum sei.
Bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich jedoch als gewöhnliches Zimmer mit Klappfenster. Wenn das Fenster geöffnet war, konnte man den Hund so laut hören, als würde er direkt neben den Farbtöpfen alles geben, uns alle zu beschützen.
Da Frau Resche schon seit rund zehn Jahren in Rente war und Bonny ihr beinahe einziger sozialer Kontakt, hoffte ich, dass es bei ihr nicht mehr so oft klingeln und der Hund nicht mehr so oft bellen würde. Leider hatte sie sich auf ihre alten Tage einen Computer gegönnt und kaufte seitdem von der Stehlampe bis zur Küchenrolle alles im Internet. Und die Sachen mussten geliefert werden. Von Postboten, die klingelten.
»Gehen Sie wieder rein zu ihm, Frau Claussen?« Frau Resche nickte abfällig in Richtung des Ladens, der direkt neben unserem Hauseingang lag. »Bei dem alten Zausel kauft doch eh niemand was …«
In großen Lettern prangte der Name »WÜRZ« über dem Geschäft. Wer genauer hinsah, erkannte, dass im Laufe der Jahre vorne das »GE« und hinten das »E« abgeblättert und nie erneuert worden waren. Schlicht »Gewürze« hieß der Laden einst, alle sprachen aber nur vom »Würz«.
»Ja, das tue ich. Ich gehe wieder rein in das dunkle, gefährliche Loch.« Maria Resche zog die linke Augenbraue hoch und ihren verzogenen Köter hinter sich her.
»Dann sagen Sie ihm, dass es im ganzen Haus zieht! Durch alle Ritzen. Lange mache ich das nicht mehr mit! Und die anderen Mieter auch nicht. Schönen Tag noch, Frau Claussen.«
»Tschüs, Maria!«
Einen Heidenspaß bereitete es mir, wenn ich sie manchmal bei ihrem Vornamen nannte. Sie hatte mich bereits als Baby gekannt, und damals sagte sie logischerweise nicht Frau Claussen, sondern Jule. Als sie eines Abends mangels anderer Alternativen auf mich aufpasste (was meine Mutter sich vermutlich nie verziehen hat), durfte ich sie aus einer Laune heraus Maria nennen. Das tat ich nach diesem Abend nie mehr, aber als sie begann, mich Frau Claussen zu nennen, fiel mir wieder ein, dass ich eigentlich Maria sagen konnte.
Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt
und doch wie kein anderer zu sein.
Simone de Beauvoir
Die Bewegungen konnte ich im Schlaf. Neunzig Grad nach rechts, drei Schritte, das leicht verrostete Geländer fassen, eine Stufe hinabsteigen, einen halben Trippelschritt machen, etwa auf Bauchnabelhöhe die zu tief sitzende, schnörkelige Holz-Türklinke fest hinunterdrücken, manchmal zweimal, wenn sie wieder klemmte, Achtung, Kopf
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