SECHS
zierten zwei an den Wundrändern ausgefranste Einschusslöcher. Kleines Kaliber, erkannte er mit dem Blick eines Kenners. Beide Verletzungen nicht gleich tödlich.
Die vierte Schublade war leer.
In der fünften Schublade dann die ersehnte Leiche. Wirklich übel zugerichtet. Das Becken völlig zertrümmert. Der Körper übersät von Hämatomen. Knochen hatten sich durch das Fleisch seines rechten Armes gebohrt. Als er das Leinentuch vollständig aufgeschlagen hatte, bemerkte er auch den völlig verdrehten rechten Fuß. Dann inspizierte er den Kopf des Toten genauer. Der Kiefer war gebrochen und in dem halb geöffneten Mund sah er, dass ihm einige Zähne fehlten. Wahrscheinlich vom Aufschlag auf den Asphalt herausgebrochen. Die verbliebenen Zähne waren von getrocknetem Blut dunkelrot gefärbt, seine Augen geschwollen und das Nasenbein gebrochen. Im Übrigen aber war das Gesicht unversehrt und gut zu erkennen. Ohne Zweifel, das war sein Mann! Er grinste.
Dass er von Babuschka beobachtet wurde, hatte er über seine Euphorie völlig vergessen. Und, dass sein Verhalten natürlich Misstrauen und Angst säte, hatte er auch erst realisiert, als er die Tür der Kühlkammer ins Schloss rollen hörte.
Die alte Frau hatte begriffen, mit wem sie es hier zu tun hatte und dass sie nun um ihr Leben laufen musste. Und das tat sie. Sie lief so schnell es die gebrechlichen Beine erlaubten. Die Schiebetür würde ihn nur kurz behindern, mehr nicht. Wenn sie es aber bis zur Sicherheitstür schaffen konnte, dann wäre sie gerettet.
Hinter sich hörte sie die Tür wuchtig gegen den Anschlag prallen. Zwischen ihren Schritten quietschten seine über den Linoleum-Boden. Nur viel schneller. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen. Nie hatten ihre Beine so geschmerzt, ihre Lunge niemals so gebrannt und ihr Herz so wild geschlagen, wie jetzt. Sie biss die Zähne zusammen.
Die rettende Tür war fast erreicht. Nur noch ein paar Schritte. Sie streckte schon einen Arm nach der Klinke aus, als sich eine Hand fest um ihren Arm schloss und sie abrupt zurückriss. Dann, nur den Bruchteil einer Sekunde später, folgte eine andere und presste sich unnachgiebig auf ihren Mund. Alle Mühe war vergebens. Sie hatte es nicht geschafft. Starr vor Schrecken weiteten sich ihre Augen. Dieser Kraft hatte sie nichts entgegenzusetzen und so ergab sie sich ihrem Schicksal.
Sirkowsky schleifte sie rückwärts in Richtung Kühlkammer zurück. Die Gummisohlen ihrer Schuhe radierten schwache Streifen über den Boden.
Auf der Schwelle zum Kühlraum angekommen, schleuderte er sie mit Wucht in den Raum zurück. In dessen Mitte schlug sie dann hart auf und blieb wie ein Käfer auf dem Rücken liegen. Sirkowsky schloss die Schiebetür.
„Babuschka, Babuschka ...“, sagte er mit trauriger Stimme und schüttelte dabei tadelnd den Kopf.
„Warum tust du mir das an?“, sagte er auf Russisch. Er ging auf Frau zu und kniete sich neben sie.
„Was habe ich dir getan? Ich wollte nur meinen guten alten Freund ein letztes Mal sehen. Und du? Du läufst einfach davon. Lässt mich hier alleine!“
Er betrachtete sie sanft. Wie sie so da lag und stöhnte, sah er seine Mutter, nachdem ihr der Mistbock mal wieder mitten ins Gesicht geschlagen hatte.
Marija war von dem Aufschlag eine kurze Zeit benommen. Doch seine Präsenz und der Geschmack von Blut auf der Zunge, ließen sie schnell wieder zu Sinnen kommen.
„Ich bin nur eine alte Frau. Ich werde niemanden etwas sagen", jammerte sie mit gebrochener Stimme, in der Sprache ihrer Heimat. Zitternd legte sie einen Arm um seinen Hals.
Sirkowsky hob sie an, legte ihren Kopf in seinen Schoß und streichelte sanft durch ihr Haar, über ihre Wangen und über ihren Hals. Er fühlte ihre Wärme und er fühlte ihr Leiden.
„Psst, Mamuschka. Alles wird gut. Du musst dir keine Sorgen mehr machen.“
Er lächelte tröstend und sie lächelte zurück. Ihr Blick war voller Hoffnung, der seine voller Liebe. Eine Träne lief ihm die Wange herunter. Er küsste sie auf die Stirn.
Dann, mit einem leisen Knacken, brach er ihr Genick. Ihr Körper erschlaffte sofort und der Arm, der gerade noch um seinen Hals geschlungen war, platschte leblos auf die Fliesen.
Frieden.
Gott sei ihrer Seele gnädig.
In ihren weit geöffneten Augen las er Erlösung. Ja, er hatte ihr endlich den Frieden geschenkt, den sie verdiente. Niemand mehr, der sie schlagen und entehren konnte. Niemand, der sie jetzt noch verletzen, sie beleidigen und quälen würde. Sie war
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