SECHS
unerreichbar für das Leid der Welt.
Sirkowsky verweilte noch einen Moment kniend neben der Toten, bekreuzigte sich und trug sie schließlich zur leeren Kühlbox. Dann verschwand Marija Zwetkow in der Dunkelheit der vierten Kammer. Dort, wo alle am Ende ihres Weges landeten. Und nun auch sie.
So, als wäre nichts gewesen, widmete er sich seiner letzten Aufgabe - der Wiederherstellung seiner Ehre. Mit seiner Handykamera fotografierte Sirkowsky das bleiche Gesicht des Mannes, der zwar seiner Schlinge, aber nicht dem Tod entronnen war.
Dann verschwand er.
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So kalt ... so dunkel.
Frank lauschte. Eine Tür schloss sich metallen. Er wollte sich bewegen, sich bemerkbar machen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Es war, als treibe sein Geist ohne Verbindung zu seinen Sehnen, Muskeln, Nerven im leeren Raum umher. Hüllenlos. Kein Befehl seines Gehirns wurde weitergegeben. Nicht an seine Finger und nicht an seine Beine. Auch sein verzweifelter Schrei spielte sich nur in seinem Kopf ab.
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Zur gleichen Zeit, als sich im Keller des Hauses ein Drama abspielte, saßen Melanie und die Kinder auf Station G 1, zwei Etagen darüber, in Erwartung des Ausgangs eines ganz anderen Dramas. Die diensthabende Ärztin hatte Melanie gerade erklärt, dass ihr Mann in einen wirklich sehr schweren Unfall verwickelt worden war und die Ärzte immer noch operierten.
Jasper, der sich bei der Gelegenheit über den Sachstand eines anderen Falles hatte informieren lassen, wünschte Melanie viel Kraft und verabschiedete sich dann.
Sie waren nun alleine.
Melanie saß wie paralysiert auf dem Flur, knetete unablässig ihre Hände, drückte von Zeit zu Zeit die zu ihren Seiten sitzenden Kinder und versuchte sich, so gut es eben ging, mit der Beobachtung des Publikumsverkehrs abzulenken.
Während sie so dasaß, kam ihr die Zeit vor wie ein wilder Strom: Versucht man gegen seine Richtung zu schwimmen, erlebt man das Paradoxon von Stillstand und Bewegung zugleich.
Und so sehr Melanie sich mühte, alleine mit sich selbst und ihren Gedanken, gegen diesen Fluss zu schwimmen, wach zu bleiben, desto langsamer verging die Zeit. Wie lange sie nun schon derart gepaddelt war und dabei versucht hatte, den Kopf über der Wasserlinie ihrer Müdigkeit zu halten, wusste sie nicht. Irgendwann stellte sie nur fest, dass beide Kinder auf ihrem Schoß eingeschlafen waren. Melanie lehnte sich gegen die Wand, ließ sich treiben und folgte ihren Kindern in einen unruhigen Schlaf.
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Etwa zu dem Zeitpunkt, da Melanie auf dem Flur der Station in den Schlaf sank, betrat Ben das Krankenhaus. Die ganze Hinfahrt hatte er sich das Hirn zermartert, wie er es anstellen sollte, zu Anna vorgelassen zu werden. Mit Sicherheit würde man ihm den Zugang verweigern, da er ja alles andere war als ein Familienangehöriger. Aber irgendwann, bei Kilometer fünf oder sechs, war ihm dann doch gekommen, wie es klappen konnte.
Auch er traf unmittelbar nach dem Eintreten auf die Stationsärztin Zanner.
„Ich suche Anna Liebermann", sprach er Frauke an, die gerade in einem Zimmer verschwinden wollte.
Sie musterte ihn verdutzt.
„Wie sind Sie denn hier hereingekommen?“
„Die Tür war nicht geschlossen", antwortete Ben.
Die Ärztin verdrehte die Augen. Wie oft hatte sie den Hausmeister schon gebeten, das Problem ein für alle Mal zu beheben, notfalls eben einen neuen Schnapper einzubauen! Alles was er tat, war die Tür und den Schließmechanismus zu ölen. Das ging dann eine Weile gut, doch schon nach kurzer Zeit standen wieder wildfremde Leute auf der Station.
„Und Sie sind ...?“, fragte sie, nachdem ihr Ärger verraucht war.
Jetzt kam der Plan. Er setzte alles auf eine Karte.
„Ich bin Ben Liebermann. Der Bruder“, antwortete er angestrengt bemüht, ihr ohne jede Regung in die Augen zu schauen. Gleichzeitig suchte er ihre Augen nach Argwohn ab. Doch da war nichts.
„Herr Liebermann, wenn Sie noch einen Moment warten könnten? Ich muss hier eine Visite machen und dann kümmere ich mich um Sie.“
„Können Sie mir kurz sagen, wie es ihr geht?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dazu muss ich mir erst noch einmal die Akte ansehen. Dann weiß ich Genaueres", antwortete sie.
Jetzt war er nicht weit davon entfernt, sich selbst ein Bild zu machen. Sein Bluff hatte funktioniert.
„Da vorne sind Stühle. Ich hole Sie dann ab und wir besprechen alles in meinem Zimmer.“
Ben nickte und die Ärztin trat zur Visite an.
Er schritt zu den beidseitig des
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