Sechseckwelt 01 - Die Sechseck-Welt
Augen offen blieben. Alles sah sehr dunkel aus, als blicke sie durch einen stark unterbelichteten Film. Dann spürte sie, wie die zahllosen kleinen Ranken in ihren Füßen auf ein automatisches Signal hin hinausdrangen und sich tief in den lockeren Boden bohrten. Müdigkeit und Kälte schienen zu verschwinden, und sie spürte, wie Wärme in ihr hochstieg. Alle Zellen ihres neuen Körpers schienen zu prickeln, und sie wurde erfaßt von einem orgasmischen Gefühl höchster Lust, das alles Denken auslöschte.
Im ganzen Hex von Czill verwurzelten sich alle, die nicht im Zentrum arbeiteten. Für einen fremden Beobachter wäre das Land gesprenkelt gewesen mit über einer Million hoher, dicker Stämme, die so regungslos waren wie die Bäume.
Und doch war die Landschaft nicht ohne Bewegung. Millionen von Nachtinsekten stimmten einen Chor an, und verschiedene kleine Säugetiere huschten auf der Suche nach Nahrung herum und wühlten dabei den Boden auf, lüfteten ihn und düngten ihn. Sie lieferten die Kohlendioxid-aus-Sauerstoff-Umwandlung, die zum atmosphärischen Gleichgewicht in diesem Hex nötig war. Die wimmelnden Legionen des Lebens existierten mit den Tageslicht-Czillanern in vollkommener Übereinstimmung. Sie lebten unter den Tausenden von Sternen am Nachthimmel, die das schlafende Pflanzen-Volk nicht sehen konnte.
Da Vardias Augen lidlos waren, sah sie das Erwachen, während sie es erlebte. Es war seltsam, aus diesem unendlich angenehmen Schlaf aufzutauchen und den Morgen hell werden zu sehen. Mehrere von den anderen standen in ihrem Gesichtsfeld, und sie sah, daß die Schlafhaltung eine sehr starre war. Das Entwurzeln hing offenbar davon ab, daß die Sonnenstrahlen auf das einzelne Blatt auf dem Kopf fielen, so daß man um so später erwachte, je länger es dauerte, bis man von der Sonne erreicht wurde. Sie konnte sich plötzlich wieder bewegen.
Brouder kam auf sie zu.
»Nun? Fühlen Sie sich wohler?« fragte er.
»Ja, sehr«, erwiderte sie, und so war es auch. Zum erstenmal fiel ihr auf, daß Brouder eine Halskette wie jene beiden trug, die sie gestern gesehen hatte. Sie betrachtete den winzigen Gegenstand daran genauer.
Es war eine Digitaluhr.
Brouder sah ihren Blick und nickte.
»Wir sind früh dran«, sagte er und fügte verlegen hinzu: »Das sage ich immer, obwohl wir immer zur selben Zeit aufwachen.«
»Warum dann eine Uhr? Es ist doch eine, oder?«
»O ja. Ich brauche sie, damit sie mir Zeit und Datum für die Begegnungen im Zentrum angibt. In der letzten Zeit geht es hektisch zu, und ich habe immer Angst, daß ich festsitze und nachts nicht heimkommen kann.«
»Woran arbeiten Sie?« fragte sie.
»An einem sehr seltsamen Projekt, selbst für diesen Ort. Wir versuchen, ein vermutlich unlösbares Rätsel zu lösen, das überall auf dieser Welt vorkommt. Viele befassen sich damit, aber die meisten glauben, daß es nicht zu lösen ist.«
»Warum dann die Mühe?«
»Weil auch andere daran arbeiten, obwohl wir am besten dafür ausgerüstet sind. Wenn irgendeine Aussicht auf Lösbarkeit besteht, wird das höchste Wissen uns gehören. In den Händen anderer könnte es das Überleben von uns allen bedrohen.«
Vardia drängte ihn, ihr weitere Einzelheiten zu verraten, aber der Czillaner vertröstete sie auf einen anderen Zeitpunkt.
»Ich gehe jetzt zum Zentrum«, sagte er. »Sie sollten mitkommen. Da sehen Sie nicht nur etwas von unserem Land – das jetzt auch das Ihre ist –, sondern Sie können auch nur im Zentrum getestet und eingeteilt werden.«
Sie machten sich auf den Weg, und Brouder nannte ihr einige Daten. »Czill hat einen Durchmesser von sechshundertvierzehnkommasechsundachtzig Kilometern, wie jedes andere Hex auf der Welt, mit Ausnahme der Äquator-Hexagons. Wir haben natürlich sechs Nachbarn, zwei davon Meeresgattungen. Unsere sieben großen Flüsse werden durch Hunderte von kleinen Wasserläufen wie dem an unserem Lager gespeist. Die Flüsse wiederum ergießen sich in einen großen Ozean – einen von drein im Süden –, der fast hundert Hexagons bedeckt. Der unsere ist der Overdark-Ozean. Einer der Meeresbewohner ist ein Meeres-Säugetier, halb humanoid, halb Fisch. Sie atmen Luft, leben aber die meiste Zeit unter Wasser. Sie heißen Umiau, und es kann sein, daß Sie im Zentrum einigen davon begegnen. Wir arbeiten immer bei einigen Projekten zusammen, vor allem bei ozeanographischen Untersuchungen, da wir ihre Welt außer in Druckanzügen nicht besuchen können. Die andere
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