Sechseckwelt 04 - Rückkehr auf die Sechseck-Welt
andere Leute unterrichten können. Viele davon spezialisieren sich auf die Feinheiten des Gesetzes und leben den Glauben, obwohl sie ihr Geld in weltlichen Berufen verdienen. Im Grunde durchaus faszinierend. Wissen Sie zum Beispiel, daß es drei Rabbis gibt, die gleichzeitig Frachterkapitäne sind?«
Sie war erstaunt.
»Kapitäne? Religiöse Lehrer?«
»Sehen Sie, was ich meine. Und trotzdem ist das ein dreifach gutes Leben, weil es nicht nur lukrativ ist und viel Zeit für das Studium bietet, sondern sich auch als der beste Weg erweist, die kleinen, über Hunderte von Welten verstreuten Gemeinden zu erreichen. Von den dreien haben alle zu irgendeiner Zeit Tätigkeiten ausgeführt, an denen auch Brazils Schiff beteiligt war. Zwei davon scheinen im Lauf der Jahre – ja, Jahrzehnte – engen Kontakt mit Brazil gehabt zu haben, so daß sie als seine Freunde gelten dürfen. Aber nur einer ist Besitzer eines eigenen Schiffes; die anderen arbeiten für Reedereien. Ich war schon früher darauf gestoßen, verwarf den Mann aber, weil er zu den Chassidim gehört – der strengsten Sekte oder Abart des Judaismus, deren Mitglieder sich an starre Vorschriften für Kleidung, Essen, religiöse Formen und Verhaltensweisen halten müssen. Die Chassidim existieren in einer modernen Welt, ohne Kompromisse zu schließen, und bleiben bei ihren Jahrtausende alten Gesetzen. Ich hatte nicht damit gerechnet, Brazil in einer solchen Rolle zu finden, weil er ganz offensichtlich nur wenige dieser Vorschriften beachtet hat. Außerdem ist der bewußte Rabbi alt; er hat bereits zwei Verjüngungen hinter sich und ist größer und dicker als Brazil, mit weißem Vollbart. Aber heute eingegangene Daten überzeugen mich von der Logik des Ganzen.«
»Ich kann zwar einsehen, daß das eine leicht anzulegende Maske wäre«, sagte Mavra, »aber darüber hinaus?«
»Nun, ich konnte für einen Zeitraum von drei Jahrzehnten die Flugroutenbeschreibungen vom Schiff dieses Mannes und Brazils ›Stehekin‹ rekonstruieren. Sie wären entsetzt, wenn Sie sähen, wie oft ihre Wege übereinstimmen – und man darf nicht vergessen, daß sie beide Eigner ihrer Schiffe sind, so daß sie nicht gehalten waren, sich einem Routenchef zu unterwerfen. Ihre Nebenausflüge interessierten mich besonders. Sie besuchten in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren praktisch jede streng jüdische Gemeinschaft. Während der zwanzig Jahre vor Brazils Verschwinden hatten sie bei der einen oder anderen Gemeinde gemeinsam die höchsten jüdischen Feiertage mitgefeiert. Sie kannten einander über sehr lange Zeit hinweg sehr gut.«
»Aber scheidet er damit nicht aus? War es nicht Brazils Arbeitsmethode, an die Stelle eines jungen Mannes zu treten?«
»Das hier ist genausogut. Ein alter Mann, der alle seine Zeitgenossen überlebt hat. Ein Frachterkapitän von hohem Ruf und bekanntem Namen. Aber wichtiger noch ist, daß Brazil und dieser Mann sich ungefähr sechs Monate vor Brazils Verschwinden auf einem kleinen Planeten trafen. Unser Mann war alt, er hatte medizinische Probleme, seine Untersuchung stand bevor, und ohne Verjüngung konnte er praktisch nicht durchkommen – die medizinischen Unterlagen zeigten indessen an, daß er eine weitere Verjüngung einfach nicht auszuhalten vermochte. Vier Monate danach kam er jedoch mit fliegenden Fahnen ohne Verjüngung durch eine vollständige Untersuchung!«
»Vier Monate?« sagte Mavra verwirrt. »Du hast doch gesagt, sie hätten sich sechs Monate vorher getroffen.«
»Sicher! Verstehen Sie denn nicht? Damals tauschten sie die Identität. Brazil nutzte die verbleibende Zeit, um den Rest dessen zu beschaffen, was er brauchte, um diesen Mann glaubhaft darzustellen, dann wurde er zu ihm, während der alte Rabbi als Brazil mit der ›Stehekin‹ davonflog – als ein Brazil demnach, der seine eigene Untersuchung erst ein Jahr zuvor bestanden hatte und die nächste erst in drei Jahren über sich ergehen lassen mußte.«
»Muß denn nicht jemandem aufgefallen sein, daß Brazil sich in einen alten Mann verwandelt hatte?« fragte sie.
»Gewiß. Wenn man ihn gesehen hat. Falls er aber Häfen bediente, wo man ihn nicht kannte, und wenn er in seinem Schiff blieb, entstand gar kein Rätsel. Die ›Stehekin‹ nahm während dieser Zeit keine Passagiere auf, beförderte jedoch Fracht. Zwei Monate nach dem Tausch wird für einen ›Überfall‹ gesorgt. Brazil kommt um. Fertig.«
»Und was ist aus dem Mann geworden, den er ersetzt hat? Ist er
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