Sechselauten
gesagt.« Sägässer schwieg einen Moment. »Ich wollte Ihnen das einfach mitteilen. Vielleicht schauen Sie morgen früh als Erstes vorbei. Familie hat er ja offenbar keine. Dann wissen wir bestimmt mehr.«
»Ja, sicher«, murmelte Eschenbach und legte auf.
Eine Dreiviertelstunde später stand er neben Lenzens Bett und sah auf den schlafenden alten Mann. »Mein Gott, Ewald, mach doch kein so dummes Zeug«, murmelte er.
Der Brustkorb hob und senkte sich. Über seinem mächtigen Schnurrbart, im rechten Nasenloch, verschwand ein kleiner Schlauch.
Eine Stunde verging. Eschenbach hatte sich neben Lenz auf einen Stuhl gesetzt. Hoffte und bangte und nickte schließlich mit dem Kinn auf der Brust für eine Weile ein.
Als er aus dem Schlaf aufschrak, sah er in die Augen der Stationsschwester. Ihre Hand lag auf seiner Schulter.
»Sie können hier nicht bleiben«, sagte sie.
»Doch«, sagte er.
»Warten Sie.« Die Schwester schien zu überlegen.
Eschenbach stand auf. »Ich muss bleiben«, sagte er und deutete mit der Hand auf Lenzens bleiches Gesicht. »Der darf sich jetzt nicht davonstehlen … muss auch bleiben, der Lenz.«
»Der wird uns schon nicht davonlaufen«, sagte die Schwester. »Kommen Sie bitte.«
Der Kommissar rührte sich nicht. Er sah in die dunklen Augen der jungen Frau. Eine Inderin, dachte er, als er den Punkt auf ihrer Stirn entdeckte. »Der muss aufwachen, der Lenz.«
»Wird er auch«, sagte die Frau mit dem Punkt. »Und Sie sollten schlafen. Sehen todmüde aus. Ich werde Ihnen ein Bett richten, im Nebenzimmer.«
Der Kommissar nickte schwach. Dann folgte er der Schwester in Richtung Ausgang.
Zwei Stunden später stand Eschenbach an der Kasse in der Cafeteria des Spitals im Erdgeschoss. Er bezahlte für einen doppelten Espresso. Mit der Tasse in der Hand ging er ein paar Schritte zum Fenster, dort trank er ihn im Stehen.
Sein Blutdruck war im Keller, er fühlte sich schwindlig. An der Hauptpforte ließ er ein Taxi rufen. Dann ging er nach draußen. Die kühle Morgenluft tat ihm gut.
Lenz war noch immer nicht aufgewacht. Eine Schwester hatte Eschenbach geweckt und es ihm berichtet. »Wir haben jetzt Schichtwechsel«, hatte sie ihm erklärt. »Und wir brauchen das Bett. Aber falls sich bei Herrn Lenz etwas tut, werde ich Sie benachrichtigen.«
»Sofort?«
»Ja, sofort.«
Eschenbach rief im Büro von Kobler an, er wollte sich einen Termin geben lassen, sie mit dem konfrontieren, was er herausgefunden hatte. Aber Kobler war noch nicht aufgetaucht, erfuhrer von ihrer Sekretärin, Frau Kollreuter. Sie war guten Mutes: »Sie kommt bestimmt gleich.« Und als Eschenbach es fünf Minuten später wieder probierte, sagte sie: »Heute ist ihr Bürotag. Eigentlich hat sie gar keine Termine. Sie müsste jeden Moment kommen. Vielleicht rufen Sie noch einmal an?« Eva Kollreuter sagte es mit einem kleinen Säuseln in der Stimme.
Ein Taxi hielt vor der Pforte, Eschenbach stieg ein.
Beim Stauffacher ließ sich der Kommissar wieder absetzen, da er die letzten Meter bis zum Präsidium zu Fuß zurücklegen wollte. Er war noch immer nicht richtig klar im Kopf. Duslig und erschöpft. Vielleicht wurde es besser, wenn er sich bewegte.
Mit leicht gesenktem Kopf, etwas mürrisch angesichts dessen, was ihm nun mit Kobler bevorstand, bog der Kommissar in die Gessnerallee ein. Zweihundert Meter später merkte er, dass etwas nicht stimmte: Es waren die Krücken. Eschenbach hatte
sie vergessen. Im Triemli. Erstaunlicherweise war es nicht der Schmerz, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Denn Schmerzen verspürte er seit Tagen nicht mehr. Es waren die Arme und Hände, die wie unnütz um den eigenen Körper schlingerten. Völlig frei, als hätten sie nichts Gescheiteres zu tun.
Eschenbach ging weiter. Unterwegs telefonierte er noch einmal mit Kollreuter. Sie versprach ihm, ihn zu benachrichtigen, sobald die Chefin käme.
Zehn Minuten später betrat der Kommissar zum ersten Mal seit seinem ungerechtfertigten Rausschmiss (als nichts anderes konnte er es bezeichnen) wieder als Chef der Kripo Zürich das Gebäude an der Kasernenstrasse. Er fuhr mit dem Lift in den fünften Stock, den Blick ungeduldig auf die Anzeige oberhalb der Türen gerichtet, auf der in roten Punkten die Etagen durchgezählt wurden.
Es roch nach feuchten Stiefeln und altem Rauch. Und weil es frühmorgens war, auch nach Rasierwasser. Es roch wie immer. Hätte man Eschenbach in diesem Moment gefragt, wie es sich anfühlte, wieder zurückzukommen, er
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