Sechselauten
befasst«, sagte sie. »Jedenfalls habe ich in diesem Archiv angerufen. Sie wissen ja, wie das geht. Zuerst wird abgewimmelt, dann wird man vom einen zum andern verbunden. Am Schluss hing ich in der Warteschleife, und ein Kinderchor sang: Bruder Jakob, Bruder Jakob … Ich hätte mir bei der ganzenWarterei die Nägel lackieren können, wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre.«
Eschenbach brachte zwei weitere Espressi. Er hätte sich gerne eine Brissago angezündet, aber er wollte Rosas heiligen Eifer nicht stören – nicht mit einem dieser »Stinkstängel«, wie Rosa seine Zigarillos bezeichnete.
»Als ich in diesem Laden endlich jemanden dranhatte, der das Maul aufmachte, da hat sie mir erklärt, dass die Pro Juventute das Archiv des Hilfswerks ab Herbst 1983 unter strengem Verschluss halte. Danach habe man es nur noch ausnahmsweise einzelnen Wissenschaftlern zugänglich gemacht. Allerdings ohne Einverständnis der Personen, über die in diesem Archiv Akten geführt wurden.«
Auch Rosas zweiter Espresso wurde kalt.
»Ich hab nicht lockergelassen«, sagte sie. »Ich wollte wissen, welche Leute damals Zugriff hatten. Aber das wüssten sie heute nicht mehr, hat diese dumme Kuh behauptet …« Rosa lächelte. »Glauben Sie mir, Kommissario. Ich hab denen dort die Hölle heißgemacht.«
»Sehr gut, Frau Mazzoleni!« In einem Anflug von Begeisterung stieß Eschenbach seine Sekretärin freundschaftlich in die Seite: »Jetzt wird’s doch noch interessant.«
Rosa ließ sich nicht beirren. Sie legte eine Hülle zur Seite und nahm ein anderes Mäppchen zur Hand. »Ende 1984 richtete eine Gruppe von betroffenen Jenischen in einem offenen Brief an Bundesrätin Elisabeth Kopp und Alt-Bundesrat Rudolf Friedrich folgende Postulate: Anerkennung der Jenischen als kulturelle Minderheit, materielle Wiedergutmachung, die Zusammenführung von heute noch getrennten Familien und die Herausgabe der Akten des Hilfswerks Kinder der Landstrasse.« Rosa sah Eschenbach an. »Keine übertriebenen Forderungen, finde ich. Eigentlich das Minimum, könnte man meinen.« Rosa seufzte. »Wissen Sie, Kommissario. Mit der Zeit denkt man sich in diese Leute hinein, und dann tut es richtig weh.«
»Und was ist dann passiert?«
»Eben nichts. Der Brief wurde nie beantwortet.«
Es überraschte Eschenbach, dass Rosa an dieser Stelle nichts weiter sagte oder kommentierte. Kein Schimpfen und kein Puta-Madre-Schweizerland. Sie nahm einfach das nächste Häufchen Papier aus einer weiteren Hülle und fuhr fort.
»Ab 1985 betrauten immer mehr Betroffene die Kanzlei Kronenberger & Graf mit der anwaltlichen Wahrung ihrer Rechte. Auf Sitzungen mit Vertretern der Fahrenden tendierten die Vertreter der Pro Juventute und des Bundes dahin, dass die von Dr. Siegfried, dem Leiter des Hilfswerks, und seinen Nachfolgern als Vormundschaftsakten geführten Akten der Zuständigkeit der aktuellen Heimatkantone der einzelnen Mündel unterlägen. Man wollte so erreichen, dass sich der Aktenberg auf über zwanzig Kantonsarchive verzettelte.
Die jenischen Betroffenen und ihr Rechtsvertreter Graf sprachen sich dagegen aus und forderten eine integrale Herausgabe aller Akten des ›Hilfswerks‹. Die Pro Juventute erstellte am 24 . April 1981 ein Verzeichnis der von Dr. Siegfried geführten Unterlagen. Darunter Buchhaltung, Korrespondenz et cetera. Vermutlich auch eine Reihe persönlicher Dokumente (Ausweise, Fotos, Zeugnisse) einzelner Mündel oder ihrer Verwandten.«
»Dann wollte Kronenberger doch, dass die Akte publik wird. Irgendwie ist das nicht logisch«, sagte Eschenbach und biss sich auf die Unterlippe.
»Warten Sie, es ist noch nicht fertig«, sagte Rosa. »Das Eidgenössische Departement des Innern, in dessen Zuständigkeit die Stiftungsaufsicht über die Pro Juventute liegt, verfügte aufgrund einer Aufsichtsbeschwerde von Rechtsanwalt Kronenberger vom 29 . Mai 1986 , die Akten des Hilfswerks unter Verschluss zu behalten und zu versiegeln.«
»Das ist ja ein Ding«, murmelte Eschenbach.
»Und am 3 . Juni 1986 , anlässlich der Nationalratsdebatte«, machte Rosa weiter, »da entschuldigte sich BundespräsidentAlfons Egli dafür, dass der Bund das Hilfswerk mitfinanziert hat. Gleichzeitig hielt er fest, dass das ›betrübliche Kapitel‹ der Aktivitäten des Hilfswerks ›unter der Ägide der Pro Juventute‹ und ›im Auftrag oder nach Wunsch der Kantone‹ durchgeführt worden sei.« Rosa wedelte mit drei zusammengehefteten Seiten. »Das steht
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