Sechselauten
ich.«
Still überflog der Kommissar nochmals den Text. Es kam ihm in den Sinn, was er über ›Mulo‹ im Internet gelesen hatte. »Mulo – Sie übersetzen Mulo mit tot. Könnte da nicht auch eine Person gemeint sein?«
»Natürlich«, sagte Lohl. »In der Phantasie eines Kindes sowieso. Ich habe einmal einen Jenischen gekannt, der hat behauptet, er hätte den Mulo gesehen. Im Wald. Sie sehen, es ist vieles möglich.«
»Ja, das ist mir jetzt klargeworden«, sagte der Kommissar, bedankte und verabschiedete sich. Längst war er in Gedanken wieder bei dem Jungen. Der Text sprach tatsächlich dafür, dass Latscho etwas gesehen hatte. Plötzlich fühlte sich Eschenbach wieder jung. Er saß noch eine Weile am See und blinzelte in die Sonne. Ein klarer Himmel zog sich bis zu den Glarner Alpen. Es war angenehm warm geworden.
2
L ara Bischoff sah in das schöne, ebenmäßige Gesicht von Ira Wendersley und wünschte, es wäre ihres.
»Es wird alles gut, Madam … Es braucht Zeit.« Ihre persönliche Assistentin erwiderte ihren Blick nur kurz, dann setzte sie sich auf den bequemen Stuhl rechts neben dem Bett. »Hier werden Sie wenigstens anständig versorgt.«
Lara sagte nichts. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, dass man nicht anständig zu ihr gewesen war. Wenn es manchmal hart war in ihrem Leben, wenn sie untendurch musste – dann hatte sie es angenommen, weil sie wusste, dass es machbar war.
»Alles ist machbar.« Das waren die Worte ihres Vaters gewesen.
Aber jetzt war alles anders. Nichts mehr war machbar. Charlotte war tot. Unwiederbringlich tot.
Lara schloss die Augen. Es war nicht das Bild der Totenmaske ihrer Schwester, der helle Teint ihres leblosen Antlitzes, das ihr zusetzte, es waren die Erinnerungen. Große, lachende, streitende und weinende Bilder zogen wie ein endlos langer Film an ihrem inneren Auge vorbei. Sie würden verblassen, dachte Lara. Und es würden keine neuen dazukommen; das war das Schlimmste. Das Leben trocknete ein wie Tinte auf einem weißen Blatt Papier.
Was machte es für einen Sinn, die Augen zu öffnen und hinauszublicken in eine Welt, die sie nicht mehr kannte. Mit einem Gesicht, das nicht mehr das ihre war.
Eine andere Nase, andere Wangen und ein Ohr, das rechte,das verstümmelt war. Einzig die Haare, die man ihr für das Nähen zweier Platzwunden abrasiert hatte, würden nachwachsen.
»Ich bin ein Zombie«, sagte sie schwach.
»Das ist ja Unsinn«, erwiderte Ira. »Die plastische Chirurgie wirkt heutzutage Wunder.«
»Ich glaube nicht an Wunder.«
»Dass Sie überhaupt noch leben, ist eines.«
Wieder schloss Lara die Augen. Unzählige Male hatte sie sich gewünscht, dass alles nur ein Traum gewesen wäre; aber es war keiner. Die Realität hieß Princess Grace , eine der am besten ausgestatteten Privatkliniken Londons.
Nach der Notaufnahme im University College Hospital und der ersten, qualvollen Nacht im hässlichsten Zweitausendbettenhaus Londons, hatte man sie verlegt. Gleich am nächsten Morgen, auf Anordnung ihrer persönlichen Assistentin Ira.
Lara kannte das kleine Hospital am Nottingham Place, das den gutbetuchten Kranken vorbehalten war, in- und auswendig: Die überdurchschnittliche Bettenbelegung war ihr ebenso geläufig wie die income statements und die Kennzahlen EBIT , EBITDA , ROI usw. Sie kannte die Geschichte des Hauses und wusste, dass die Fürstin von Monaco das Spital 1977 eingeweiht hatte. Zwanzig Jahre später war es von der HCA Hospital Group übernommen worden: Zu einem Schnäppchenpreis, wenn man es rückblickend betrachtete. Vom Vorstand hatte es Applaus gegeben, als Lara damals den Deal abgewickelt und präsentiert hatte.
Princess Grace war ein idiotischer Name für eine Klinik, fand Lara jetzt, da sie selbst dort lag. Sie versuchte sich das Leben von Grace Kelly vorzustellen, wie es wohl verlaufen wäre, wenn die Fürstin den Autounfall überlebt hätte: zuerst mit Kopfverband und später – nach unzähligen Operationen – mit künstlich aufgebauten Wangenknochen und lahmenden Mundwinkeln. Mit Plastiknase und einer verhutzelten, schrägen Fratze – verborgen hinter Hermèstüchern für den Rest eines langen, elenden Krüppellebens.
Sterben in Schönheit war kein schlechter Abgang, fand Lara. Aber das Schicksal, dieser zynische Hund, ließ den Vorhang offen, und auf der Bühne brannte noch Licht. »Whether ’tis is nobler in the mind to suffer; the slings and arrows of outrageous fortune – or to take arms against a sea of
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