Sechselauten
ja«, sagte Paresh in geschäftigem Ton. »Thomas übernimmt deinen Bereich, ad interim, versteht sich, und Suzanne …«
»Für Frauengespräche, ich verstehe.«
»Genau. Dazu kommen das handverlesene Pflegepersonal und die Ärzte hier im Grace . Und für die polizeilichen Ermittlungen werde ich als Ansprechpartner fungieren. Wenigstens bis du dich einigermaßen erholt hast. Das habe ich mit Scotland Yard so vereinbart. Wir müssen herausfinden, wer diesen Anschlag zu verantworten hat.«
»Eine Autobombe, das kann doch irgendwer …«
»Eben.« Paresh erhob sich, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab, dann meinte er: »Die Presse ist scharf auf deine Geschichte. Wenn nur ein Journalist herausfindet, wo du dich aufhältst, dann weiß es jeder. Das bringt dich nur in Gefahr. Und wir haben ein Chaos, aus dem wir nicht wieder herauskommen.Es geht nicht anders. Wir müssen davon ausgehen, dass der Anschlag gezielt dir galt. Und was die Beisetzung von Randolph angeht …« Der Sicherheitschef machte eine kurze Pause.
»Ich möchte dabei sein, das kannst du mir nicht abschlagen.« Lara griff nach dem Bedienungsteil ihres Bettes und ließ das Kopfende hochfahren, bis sie aufrecht saß. »Er hat eine Tochter … sie lebt in der Nähe von Sussex. Man muss sie benachrichtigen. Und Enkel hat er auch.«
»Ist bereits geschehen«, sagte Paresh. »Wir haben Randolph gestern beigesetzt. Im engsten Familienkreis auf dem Friedhof der Holy Trinity Church in Sussex.«
»Scheißkerl.«
»Und was deine Schwester angeht …«, fuhr Paresh unbeirrt fort. »Sobald sie von den Behörden in Zürich freigegeben wird, lassen wir sie nach London bringen. Dann werden wir sehen.«
»Weiß man jetzt, was da genau passiert ist?«
Paresh schien einen Moment zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. »Nichts Definitives. Nur dass der Polizist, mit dem du zusammengestoßen bist, suspendiert ist. Der Grund wurde nicht genannt. Diese Sechseläuten-Geschichte ist jedenfalls immer noch in der Presse. Die Journalisten versuchen einen Zusammenhang mit der FIFA herbeizukonstruieren. Offenbar finden sie das schick, so kurz vor der Europameisterschaft. Dabei ist ja noch nicht mal klar, ob es überhaupt ein Fall ist.«
»Die FIFA hat mit der EURO 08 gar nichts zu tun«, sagte Lara. »Das macht die UEFA …« Sie überlegte einen Moment, ob sie Paresh gegenüber Latscho erwähnen sollte. Lara machte sich Sorgen um den Kleinen.
Aber sie schwieg, schloss die Augen, und wieder verfolgten sie Bilder von Charlotte. Verfolgte sie dieser unbeschwerte, leichte Eindruck einer vergangenen Welt, die plötzlich so unendlich fern schien und in der Erinnerung alle Leichtigkeit verlor. Sie sah ihren Vater, wie er zwischen ihnen auf dem Bett saß und die Geschichte vorlas, die Charlotte so liebte und sie selbst nichtmochte, weil sie so traurig war: Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Als müsste sich ihre Seele übergeben, flüsterte sie: »Ich kann nicht mehr. Lasst mich gehen.«
Ira Wendersley hüstelte nervös.
»Blödsinn«, sagte Paresh. »The show must go on.«
3
D ie Linden an der Bahnhofstrasse trugen die ersten Blätter im neuen Jahr. Eschenbach entdeckte sie, als er auf der Strecke zwischen Bürkli - und Paradeplatz einen Moment stehen blieb, um zu verschnaufen. Langsamkeit hatte durchaus ihre Vorteile, warum hetzte er so? Richtig schnell wurde er mit den Krücken sowieso nicht. Er stützte sich auf sie, legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch in den wolkenlosen Himmel.
Hatte er sich verrannt? War es am Ende doch ein Entreißdiebstahl mit Todesfolge, weil das Opfer ein schwaches Herz hatte? Er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Denn bei einem solchen Delikt ging es zu neunundneunzig Prozent um Geld. Eschenbach kannte die Statistiken. Es war das Geld, für das die Leute auf der Straße mit dem Leben bezahlten. Ein grässlicher Gedanke. Aber Charlottes Portemonnaie war nicht entwendet worden. Wenn man ihr tatsächlich etwas entrissen hatte, dann etwas anderes. Nein, er sah keine Gespenster. An diesem Fall war mehr dran. Der aalglatte Kronenberger, der Lara Bischoff vor der Polizei regelrecht beschützte, die Nacht-und-Nebel-Aktion, mit der ihm Kobler den Jungen entzogen hatte, und auch die Suspendierung – Kobler war nie zimperlich gewesen. Die Kobler, die er kannte, hätte ihm das Ganze um die Ohren gehauen, direkt und ohne Schützenhilfe von einem Anwalt. Mit offenem Visier. Und vor allem hätte sie zuerst nach
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