Sechselauten
Eschenbach wurde ungeduldig.
»Rotwelsch, ich denke, es ist Rotwelsch.«
»Na also. Und wer übersetzt mir das … Ich meine so, dass ich etwas damit anfangen kann.«
Gregor fuhr sich wieder über den Bart. Er hatte große haarige Pranken. »Anna Lohl«, antwortete er. »Eine ehemalige Schülerin von mir hat so was studiert. Hebräisch und Germanistische Mediävistik. Ich glaube, die könnte dir weiterhelfen.«
Gregor schrieb Eschenbach den Namen in sein Notizbuch. »Adresse und Telefonnummer dürften leicht zu finden sein. Sie ist mittlerweile Privatdozentin und hält Vorlesungen an der Uni Zürich. Eine kluge und attraktive Frau.« Der Stolz des Lehrers war nicht zu überhören. Zufrieden lächelte er in seinen Bart, und als Eschenbach die Rechnung übernahm, bedankte sich Gregor mit einem Nicken.
»Wo hat der Junge gelebt, sagten Sie?« Es war die erste Frage, die Anna Lohl stellte.
Eschenbach, der sich nach dem Lunch mit Gregor auf eine Parkbank am See gesetzt hatte, presste sein Handy ans Ohr. »Ist das denn wichtig für die Übersetzung?«, fragte er. Der Kommissar befürchtete, dass es wie bei Gregor ins Uferlose führen würde.
»Also wenn er aus dem Berner Mattenquartier kommt, dann ist es ein Gassendialekt, mit der sich früher die Unterschicht von den Mehrbesseren abgegrenzt hat. Und im Schwarzwald, dort waren es mehrheitlich Händlerfamilien, die natürlich einen ganz anderen Wortschatz …«
»In Zürich-Seebach«, unterbrach sie der Kommissar.
»Dann ist es Jenisch«, sagte Anna Lohl bestimmt.
»Nicht Rotwelsch?«
»Hören Sie mir auf mit Rotwelsch«, sagte Lohl. »Das ist die Geheimsprache der Diebe, Bettler, Gauner und Vaganten. Die heute bei uns lebenden Jenischen distanzieren sich explizit davon.«
»Jenisch also«, murmelte Eschenbach.
»Genau. Machen wir’s Satz für Satz«, sagte Anna Lohl. Die Sprachwissenschaftlerin nahm sich Zeit. Das hatte Eschenbach wohl Gregor zu verdanken. Immer wieder hielt sie inne, suchte nach dem einen, richtigen Wort, das am besten passte. »Das sind eine Menge Wörter. Sagen Sie mal, wie alt ist dieser Junge eigentlich?«
»Acht, neun, zehn … so genau wissen wir das auch nicht. Spielt es denn eine Rolle?« Eschenbach wunderte sich, was diese Frage wieder zu bedeuten hatte.
»Eigentlich erstaunlich«, meinte Anna Lohl. »Weil die heutigen Jenischen kaum noch Jenisch sprechen. Fünf, sechs Wörter vielleicht – selten mehr.«
»Nun, es sind ältere Leute, bei denen Latscho sich aufgehalten hat. Pflegeeltern … Ende sechzig, würde ich sagen.«
»Wohl eher Pflegegroßeltern, denke ich. Mit sechzig!« Anna Lohl lachte herzlich. »Dann haben die’s ihm wohl richtig eingebläut, dem Kleinen.«
»Oder er ist ein talentierter Junge halt.«
»Latscho bedeutet gut , schön … heißt Milchkaffee – oder Kaffee ohne Milch . Eine sehr vieldeutige Sprache.« Wieder erklang das sympathische Lachen. »Trotzdem. So aus dem Zusammenhang gerissen ist es schwierig. Die reinste Detektivarbeit.«
»Ein Zusammenhang ist gerade das, was wir suchen.«
Nach einer knappen halben Stunde hatten sie den Text beisammen. »Und übrigens«, meinte Anna Lohl zum Schluss: »Der Looli – das sind gewissermaßen Sie, Herr Eschenbach. Heißt so viel wie Polizist .«
»Na dann«, sagte der Kommissar und las abschließend vor, was er sich sorgfältig notiert hatte: »Mulo (= tot) – schoflig (= falsch, frech, wüst), Gaaschi (= Mann, Gestalt), mit Güschi (= Hut), hat an der Mameere (= Mutter) gschnifft (schniffe = Allerweltswort für nehmen, stehlen, greifen, packen, verhaften, holen). Hat buugeret (buugere = schimpfen) und gufnet (gufne =(drein)schlagen, (ver)prügeln, stechen, werfen, stoßen). Und hat etwas schüübis (= weg, fort) gschnifft (siehe oben). Böse. Mameere hat plötzlich Mooris (= Angst, Furcht) beharcht (beharche = bekommen) und pufft (puffe = kurzatmig, asthmatisch atmen, v.a. bei Pferden) … ist plotzt (plotze = fallen) die Mameere. Hat danuseret (danusere = weinen, schreien) der Muhme (= Tante) und den Looli (= Polizist).«
»Stimmt das für Sie?«, wollte Anna Lohl wissen.
»Selbstverständlich«, sagte Eschenbach und sah auf das Gekritzel in seinem Notizbuch. »Ich werde es mir wohl noch ins Reine schreiben … Schon erstaunlich, wie Sie das alles hingekriegt haben.«
»Ich habe selbst jenische Wurzeln«, antwortete sie. Und so wie sie es sagte, war ein Körnchen Stolz darin versteckt. »Dann fällt es einem auch einfach, denke
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