Sechselauten
drehen.
»Mrs Bischoff!«, rief eine Stimme. Dann wurde es schwarz.
ZWEITE HALBZEIT
In der zweiten Halbzeit denkt man zum ersten Mal ans Ende, egal, ob man führt oder hinten liegt. Wenn es unentschieden steht, fragt man sich, warum die erste Halbzeit überhaupt gespielt wurde.
1
E in Mulo entsteht, wenn ein Mensch gewaltsam und unnatürlich zu Tode kommt, zur Unzeit stirbt oder ohne die üblichen Rituale bestattet wird. Er ist ein Untoter, der im Volksglauben der Roma vorkommt.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
»Sind Sie noch da?«, fragte Eschenbach.
»Ma sì«, sagte Rosa. »Klingt scheußlich. Wo haben Sie das her?«
»Internet.« Der Kommissar zog an seiner Brissago. Er saß vor dem Computer im Arbeitszimmer seiner Wohnung, lehnte sich bequem in seinem Bürostuhl zurück und hievte den Gipsfuß auf die Tischplatte. »Man findet allerlei Merkwürdiges über das Zeug, das der Junge faselt.«
»Wenn wir nur wüssten, was er damit meint.«
»Ich habe mich übrigens gefreut, Frau Mazzoleni … ich meine, dass Sie mit dem Jungen vorbeigekommen sind.«
»Ist ja auch alles gutgegangen, bis auf den Zwischenfall mit dem Sechseläuten-Buch. Aber als wir nachher noch in den Zoo gegangen sind, da war alles vergessen.«
»Und jetzt ist er wieder im Heim in Stäfa?«
»Im Waldisberg, richtig. Die passen jetzt besser auf dort. Und Jagmetti hat drei Leute abgestellt. Die behalten die Sache im Auge. Abwechselnd und rund um die Uhr.«
»Sehr gut.« Der Kommissar malte ein Strichmännchen neben die Begriffe, die er in seinem Notizbuch notiert hatte. Er hatteden Besuch also Claudio zu verdanken. »Kommt es Ihnen nicht auch komisch vor, dass der Junge von einem ›Mulo‹ spricht, wenn alles ein Unfall gewesen sein soll?«
»Aber es versteht doch keiner, was er sagt«, erwiderte Rosa.
»Oh doch.« Eschenbach blickte auf seine Notizen. »Erinnern Sie sich an die Szene bei den Fahrenden? Als unsere Kollegen aufgekreuzt sind … die ganze Katastrophe dort?«
»Ma sì, Kommissario, wie könnte ich es vergessen.«
»Eben. Da hat der Kleine zum ersten Mal gesprochen. Geschrien, um genau zu sein. Das ist mir alles nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe mir das aufgeschrieben, diese Wörter, so gut ich es halt in Erinnerung behalten konnte. Und gerade vorhin, als Sie mit dem Kleinen bei mir waren und er wieder losgebrüllt hat, ›Mulo, Mulo‹ … und was er danach noch gesagt hat. Ich meine, als er das Buch über das Sechseläuten entdeckt hat. Das war doch ungefähr dasselbe, oder?«
»Ungefähr schon.«
Eschenbach las den Text laut vor: »Mulo, der lau Mulo … e schuflig Gatschi mit Güschi het d Meere gschnüfft. Buugeret … gufnet d Meere. Het öppis Schüübis gschnifft. D Meere het Moris gharcht und puff isch si plotz danuseret die Muume der Gooli.«
»Ein paar Wörter hab ich mit Google gefunden. Güschi heißt Hut. Das ist Jenisch. Es steht auch etwas über Rotwelsch und Zigeunersprache dort – vermutlich habe ich die Wörter auch nicht richtig aufgeschrieben. Hab’s ja nur gehört.«
»Rotwelsch? Ja, darüber habe ich im Radio einmal eine Sendung gehört«, sagte Rosa. »Das ist so eine Geheimsprache, haben die gesagt. Frau Kirchgässner ist Logopädin. Vielleicht kann sie uns weiterhelfen.«
»Diese Sozialdings?« Eschenbach blies Rauch zur Decke. »Wir brauchen jemand, der diese Sprache spricht. Ich muss genau wissen, was der Kleine gesagt hat, verstehen Sie? Der hat doch etwas gesehen. Ich meine, sonst redet man doch nicht solches Zeugs zusammen. Mulo – mulo. Ich glaube nicht, dass diese Therapeutin die Richtige ist.«
»Ich kenne sonst niemanden.«
»Die Koleggers natürlich«, sagte Eschenbach spontan. »Die sprechen Jenisch. Könnten uns sicher helfen.«
»Ich glaube nicht, dass die uns noch etwas sagen werden«, meinte Rosa mit bitterem Unterton. »So wie unsere Leute mit denen umgesprungen sind.«
»Ach was! Wenn uns nichts Besseres einfällt, dann probieren wir’s. Sie kriegen das schon hin, Frau Mazzoleni. Mit Ihrem Charme!«
Rosa war nicht begeistert.
Eschenbach versuchte seinen Freund Gregor Allenspach zu erreichen. Als er den Lehrer für Latein, Deutsch und Geschichte endlich am Telefon hatte, war es bereits spät am Abend.
»Jenisch? Rotwelsch? – Ich finde, es klingt wie Jiddisch«, sagte Gregor. Er wirkte kurz angebunden. »Erklär mir das doch alles morgen. So aus dem Stegreif kann ich das sowieso nicht jetzt.«
Eschenbach vernahm das Flüstern einer
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