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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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gehen wir nachher ins Regency. Ich hab dort einen Tisch reserviert.«
    Das Queens-Auditorium in der University of Westminster war nicht übermäßig besucht. Der Raum war mit ungefähr achtzig Plätzen keiner der ganz großen im Gebäude der Universität. Lara wunderte sich über die vielen Stühle, die unbesetzt geblieben waren. Am Vortragenden konnte es nicht liegen, dachte sie.
    Mit Peter Ackroyd sprach tatsächlich ein Star der Szene. Der Biograph und Romancier hatte mit dem siebenhundert Seiten starken Wälzer Shakespeare internationalen Ruhm eingefahren. Kaum jemand packte britische Kulturgeschichte spannender zwischen zwei Buchdeckel. Zudem lebte Ackroyd in dieser Stadt – und für einen Lokalmatador waren geradezu lächerlich wenige Leute gekommen.
    Wer war Shakespeare wirklich?
    Die Frage des Abends trieb schon seit zweihundert Jahren Philologen, Rätselfreunde und Verschwörungstheoretiker gleichsam zu wilden Spekulationen an. Nicht ganz zu Unrecht, denn selbst die Experten erkannten eine fast unüberbrückbare Kluft zwischen dem historischen William S. und den ihm zugeschriebenen Meisterwerken.
    Und wie so oft verhielt sich die Länge der Debatte umgekehrt proportional zur Lösungsfindung. Zwei Parteien lagen sich diesbezüglich in den Haaren, zerrten das dünne Faktenmaterial historischer Überlieferungen mal mehr auf diese, mal auf jene Seite.
    Für die Stratfordianer war er der Sohn eines Handschuhmachers aus der Provinz, der nach London kam und ohne familiäre Beziehungen innert kurzer Zeit zum bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur wurde.
    Wie bitte soll das gehen?, fragten sich die Anti-Stratford- oder Oxfordianer und Gegner dieser These. Ein Provinzling, der weder über eine Universitätsausbildung noch über das Insiderwissen des Adels verfügte, soll Königsdramen wie King Lear oder Henry V. geschrieben haben? Unmöglich!
    »Vielleicht ist es der Glaube an das geborene Genie, mit dem wir uns schwertun«, sagte Ackroyd, ohne für eine der Positionen Stellung zu beziehen. Er vermittelte der Zuhörerschaft ein Phantombild des Theaterunternehmers und Schauspielers Shakespeare, der auf der Welle der elisabethanischen Medienrevolution zu reiten verstand und Gewinne nicht fremden Impresarios überließ. Ackroyds Bild entsprach ganz und gar nicht dem Poeten-Klischee. »Weltkundig und ungeheuer energiegeladen, war Shakespeare zugleich geschäftstüchtig genug, um sein Geld geschickt in Immobilien anzulegen und als wohlhabender Mann zu sterben.« Und dass er auf seine Kosten kommen wollte, sagte der opulente Mann am Rednerpult, der das wenige, helle Haar streng nach hinten gekämmt trug und mit seinen hängenden Wangen an Churchill erinnerte. »Shakespeare ließ das Gedichteschreiben und konzentrierte sich ganz auf das Massenmedium seiner Zeit, das Theater. Zu seinem Mysterium gehört es, dass ein offenbar durchaus praktisch veranlagter Mann eine literarische Welt voller Träume, Leidenschaften und Sprachschönheit erschaffen konnte.«
    Lara war ganz anderer Meinung, was den Landlümmel aus dem Drecknest Stratford betraf, von dem nicht einmal belegt war, dass er schreiben konnte. Sie kannte die Welt der Banker, Immobilienspekulanten und Medienmogule; und für nichts inder Welt würde sie die großartigen Versepen und Sonette einer dieser Berufsgattungen geistiger Habenichtse andichten.
    Aus ihrer Sicht war das Rätsel längst entschlüsselt, und Edward de Vere, der 17 . Graf von Oxford, des Rätsels Lösung. Die These, der exzentrische Adlige – zweifellos eine der faszinierendsten Figuren der britischen Spätrenaissance – sei Shakespeare, war bereits 1918 vom Londoner Schulmeister J. Thomas Looney aufgestellt worden. Akribisch hatte der wackere Literaturdetektiv auf Basis des Œuvres eine Checkliste erstellt, die alles enthielt, was der »wahre« Shakespeare gewusst und erlebt haben musste.
    Es entstand so das Porträt eines Hocharistokraten mit allerbester Erziehung und Zugang zur Macht. Mit diesem Raster im Kopf durchforstete Looney das Personal der Shakespeare-Zeit, bis er mit dem nachweislich literarisch tätigen Oxford-Grafen Edward de Vere fündig wurde.
    Lara hätte gerne mit Ackroyd darüber gestritten. Aber wegen der Kopfbandage hätte sie noch mehr mitleidige Blicke auf
sich gezogen, als dies eh schon der Fall war. Ihre Sitznachbarin rechts, eine ältere Dame mit blasierter Miene, war ihr demonstrativ ausgewichen, als Lara ein paar harmlose Worte zur Konversation hatte beitragen

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