Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
Vom Netzwerk:
wollen.
    Der Stuhl links von ihr war leer geblieben. Mr Ashbrook stand auf dem Reservationsschild. Auch so ein Ignorant, dachte Lara. Soll ihn der Teufel holen.
    Mr Ashbrook saß im Fond eines Londoner Taxis.
    Seit über zwei Stunden tuckerte er zusammen mit der Blechflut des Feierabendverkehrs Richtung City und raufte sich die Haare. Er hätte vom Flughafen Heathrow die Untergrundbahn nehmen sollen, dachte er.
    Längst hatte ihn der Konjunktiv seiner Unterlassungssünde aus der Lektüre gerissen. Ackroyds Buch über Shakespeare lag spärlich angelesen auf dem Nebensitz.
    »Und komm auf keinen Fall zu spät«, hatte ihm Ewald Lenz mit auf den Weg gegeben. Mit beinahe kindlicher Freude hatte ihm der Alte erklärt, dass er ihm unter dem Namen Ashbrook – »ich hab deinen Namen einfach ins Englische übersetzt« – einen Platz reserviert hatte. »Und mit etwas Glück sitzt die Bischoff rechts neben dir. Ackroyd ist der perfekte Lockvogel, glaub mir. Es gab da jemanden, der mir einen Gefallen schuldet und der dafür gesorgt hat, dass der berühmte Romancier so kurzfristig hinterm Rednerpult steht. Hoffe, sie hat angebissen.«
    Im Wagen roch es nach altem Leder. Eschenbach sah zum Fenster hinaus auf schleichende, rechtsgelenkte Karossen. Er addierte die Minuten, die der Taxifahrer genannt hatte, zur Uhrzeit auf seinem Handgelenk. Ackroyd durfte sich keinesfalls kurz fassen, dachte er. Es war zum Verzweifeln.
    Als der Kommissar endlich vor der Pforte der Universität ausstieg, seinen Rucksack schulterte und mit den Krücken auf den nächstbesten Studenten zustürmte, um nach der Queens-Aula zu fragen, steuerte Ackroyd bereits dem Ende seines Vortrags entgegen.
    »Was aber ist das Geheimnis von Shakespeares Kunst? Was macht seine Figuren so unvergleichlich?« Ackroyd gab sich
die Antwort gleich selbst: »Alle Gestalten Shakespeares besitzen eine überbordende und nicht auf Zufuhr von außen angewiesene Energie«, referierte der Autor in einem sonoren Bariton. »Das ist auch der Grund dafür, dass Shakespeare kein wirkliches Interesse für Motive zu erkennen gibt, die ein bestimmtes Verhalten begründen. Seine Personen sind schon ganz mit Leben erfüllt und entfalten dieses, sobald sie die Bühne betreten.«
    Eschenbach öffnete die Tür zum Vortragssaal.
    »Ihr Verhalten braucht keine Begründung. Darin liegt Shakespeares wahrhaftige Größe – ob Landlümmel oder Aristokrat; wer immer er gewesen sein mag.«
    Erleichtert blickte der Kommissar über die Köpfe der Zuhörerschaft hinweg zum Rednerpult. Better late than never, dachte er und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der
Stirn.
    Es war eine überschaubare Anzahl Leute. Eschenbach hatte schon befürchtet, Lenz hätte in seinem Anflug von Betriebsamkeit Inserate geschaltet und die halbe Stadt zu diesem Vortrag aufgeboten. »Dein Platz ist in der ersten Reihe, mach dich auf die Socken …« Die Worte des Alten klangen in ihm nach, als Eschenbachs Blick die vorderen Plätze durchforstete. Aber im abgedunkelten Raum sahen die Köpfe aus wie Kartoffeln. Also setzte er sich auf einen der freien Stühle in der Nähe des Ausgangs und hörte Ackroyd zu, wie dieser zum Schlussspurt ansetzte und mit den Worten des dänischen Prinzen sein Menschenbild in den Himmel hob:
    Hamlet: Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft!
    Wäre Eschenbach von seiner Hetzerei auf Krücken nicht so atemlos gewesen, er hätte gerufen: »Einspruch! Über zwanzig Jahre Polizeiarbeit sprechen dagegen.«
    Hamlet: Wie unbegrenzt an Fähigkeiten!
    Eschenbach: Wie wahr.
    Hamlet: In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig!
    Eschenbach: sah auf seinen Gipsfuß.
    Hamlet: Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott!
    Eschenbach: Hundert Morde innerhalb der eigenen Familie, letztes Jahr nur in der Schweiz.
    Hamlet: Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen!
    Eschenbach: Gefängnisse zum Bersten voll!
    Hamlet: Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube?
    Mit dem letzten Satz konnte der Kommissar leben. Nachdenklich stimmte er in den Applaus der Zuhörer ein.
    Bevor der Saal verstummte, erhob sich Eschenbach. Er humpelte Richtung Tür, lehnte sich neben dem Ausgang an die Wand und wartete. Jeder, der das Auditorium verlassen wollte, musste an ihm vorbei.
    Es hatte sich eine Schlange gebildet. Die Leute, die in der ersten Reihe gesessen hatten, standen ganz hinten an. Es waren zehn oder zwölf, höchstens. Eschenbach

Weitere Kostenlose Bücher