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Sechselauten

Sechselauten

Titel: Sechselauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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zusammengefaltet auf dem Stuhl neben dem Kleiderschrank, das Hemd hing über der Lehne. Das Einzige, das ihm fehlte, war die Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Laras Vater und Lenz. Er hatte die CD in seinen Computer gesteckt, gleich nachdem von Matt gegangen war. Nichts war mehr drauf. Die Datei war gelöscht oder zerstört – wie auch immer. Die Sache am Flughafen, der Einbruch hier – alles kein Zufall. Und mit dieser Erkenntnis wälzte er sich durch einen unruhigen Schlaf.
    Um halb fünf schrak er plötzlich auf, weil er glaubte, er höre Geräusche. Fünf Minuten lag er regungslos im Bett und lauschte. Es war nichts. Nur sein Magen knurrte.

VERLÄNGERUNG

Wenn nach der regulären Spielzeit kein Gewinner ermittelt wird, trennt man sich unentschieden. Es ist ein fairer Kompromiss; keine Sieger und keine Verlierer – ein perfektes Ende in Frieden.
    Aber ein Spiel mit solchem Ausgang ist kein großes Spiel. Die Mannschaften gehen auseinander und vergessen alles. Kein Ruhm hebt die einen in die höchsten Himmel; und keine Schmach verbannt die andern in die Hölle des Scheiterns.
    Große Spiele werden entschieden.
    Begegnungen, bei denen am Ende ein Sieger feststehen muss, wurden früher per Münzwurf entschieden. Der Zufall besiegelte, was die Akteure nicht erreichen konnten (oder wollten). Gewinnen oder Verlieren. Dazwischen gab es nichts. Nur die Täuschung.
    Damit die Spieler ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen konnten, erfand man die Verlängerung. Sie wird unmittelbar (ohne längere Pause) an das Spiel angehängt, in der Hoffnung, dass nun endlich eine Entscheidung fallen möge.

1
    L ara saß auf ihrem Bett im Princess Grace und blätterte in einem großen Album. Sie hatte es aus einer der Kisten, die neben dem Bett auf dem Boden standen. Der Ledereinband war an den Ecken etwas brüchig, und nur ein Fettfleck auf der Rückseite erinnerte an das tiefe Rubinrot früherer Tage.
    Eine Seidenkordel aus Crêpe hing aus den Seiten, und auf jedem der kartonierten Blätter klebten zwei oder drei Fotos; darunter fand sich manchmal ein Kommentar: Cannes 1975 oder Charlotte und Lara in Cheltenham. Es war die Handschrift ihrer Mutter, Lara erkannte sie sofort. Königsblaue, blässliche Tinte. Anders als die Schrift hatten die Bilder nichts von ihrem Glanz verloren; nur die Farben sahen verändert aus: Laras kleiner roter Dufflecoat war nun rosa, und Charlottes navyblauer Blazer schimmerte in keckem Türkis. Die Farbfotografie steckte damals genauso in den Kinderschuhen wie sie selbst, dachte Lara. Und die Zeit hatte aus den Farben der Erwachsenen eine rosatürkise Kinderwelt gezaubert.
    Lara spürte plötzlich einen Hauch von Fröhlichkeit. Sie dachte an Eschenbach und daran, dass sie ihm das Buch gerne gezeigt hätte. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihn anrufen sollte. Aber vielleicht war es noch zu früh.
    In der Nacht, nachdem er gegangen war, hatte Lara zum ersten Mal geweint. Nicht nur eine Träne verdrückt wie sonst – oder energisch versucht, ein Zittern der zerbissenen Lippen in denGriff zu bekommen. Nein, richtig geheult – geschluchzt – gewimmert – geflennt. Mit den Händen ins Kissen geschlagen. Das ganze Programm.
    Da sie sich so lange gut im Griff gehabt hatte, kam es für sie überraschend. Wie im Sommer, wenn in den Bergen plötzlich ein Gewitter aufkommt.
    Ihr neuer Chauffeur (sie mochte ihn nicht) hatte sie vom Flughafen abgeholt und ins Grace gefahren. Sie hatte sich bei Paresh zurückgemeldet, sich mit ihm zum Abendessen verabredet und eine Stunde später wieder abgesagt, weil sie allein sein wollte.
    Lara ließ sich eine Pizza bringen. Eine Quattro Stagioni. Sie hatte genug von Kartoffelpüree und weichgekochtem Gemüse. Und von Hackbraten und Suppen auch.
    Die erste Jahreszeit ging einigermaßen: Der Teig war mit Champignons belegt – vermutlich der Herbst. Dann begannen die Schmerzen in ihrem Kiefer.
    Langsam kauend, legte sie ein paar CD s in den Wechsler der Bang & Olufsen und hörte sich Anfänge an: Das Emperor -Konzert von Beethoven in einer alten Aufnahme mit Furtwängler; dann zwei Impromptus von Chopin.
    Die Schmerzen wurden heftiger.
    Lara schnitt den Rand der Pizza weg und ließ ihn – zusammen mit dem Rest des Jahres – auf dem Teller liegen.
    Der erste Satz der Mondscheinsonate zerrte an ihrem wackeligen Gemüt, und als sie es bemerkte, als ihr die Tränen schon in den Augen standen, versuchte sie mit den Rolling Stones dagegen anzukämpfen – A

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