Sechselauten
Bigger Bang . Aber die Jungs konnten es nicht mehr richten.
Schniefend setzte sich Lara vor den Fernseher, zappte durch die Kanäle. Bei den Wirtschaftsnachrichten auf CNN blieb sie einen Moment hängen – und etwas länger hielt sie es aus mit Gregory Peck und Ava Gardner am Fuße des Kilimandscharo. Lara dachte an Eschenbach, an die kurze Zeit mit ihm; dass es schön gewesen war und doch nicht halten würde.
Sie sah auf ihrem Handy nach (zum wievielten Mal?) – keine Anrufe, auch keine SMS .
Um halb zwei schlich sie durch die Gänge der Klinik, betrachtete im Halbdunkel die Fotografien an den Wänden und auch die Einsatzpläne im Schwesternhaus. Ging langsam zurück zu ihrem Zimmer, klappte im Badezimmer den Spiegelschrank auf, zählte die Schlaftabletten.
Kurz nach drei rief sie Paresh an. Sie bat ihn, die Kisten ihres Vaters aus dem Keller bei Goldmann Investments zu holen: »Und bring sie mir bitte gleich morgen … gleich morgen früh, okay?«
»Es ist bereits Morgen«, hatte Paresh unleidig geantwortet; und als Lara eine knappe Stunde später ins Bett kroch, hatte sie nichts mehr, an dem sie sich festhalten konnte.
Warum gab man ihr nichts zu tun? Was sie erledigen wollte, war bereits getan oder wurde ihr abgenommen. Bei Goldmann lief es auch ohne sie – vielleicht sogar besser. Dass ihr Ausfall eine Lücke hinterlassen würde, dieser Illusion hatte sich Lara nie hingegeben. Die City war ein Haifischbecken, kein Seerosenteich. Und wenn man sie einmal über einen spektakulären Deal orientierte, dann aus reiner Freundlichkeit. Man schickte ihr stapelweise Berichte über den Geschäftsgang: die Leads und die Kennzahlen; aber wirklich etwas zu entscheiden gab es nicht.
Was die Besucher anging – die paar wenigen, die Paresh zuließ –, ihnen stand das Mitleid auf die Stirn geschrieben wie eine Leuchtreklame am Piccadilly.
Warum hatte es Charlotte getroffen? Lara vermisste sie – wie auch Vater und Mutter, und Randolph. Sie alle fehlten ihr. Wie Sterne waren sie verglüht und hatten finstere Löcher ins Firmament gerissen. Ein tiefer, schwarzer Himmel senkte sich über sie. Dann löste sich ihre Welt in Tränen auf.
Immer wieder dachte sie, ich bin nicht so stark, Charlotte. Nicht so stark und tapfer … Warum habe ich das alle immer glauben lassen? Lara wusste nicht, wie ihr geschah. Sie kannte diesestiefe Gefühl von Traurigkeit nicht, das nun in ihr aufstieg und über die Dämme hinwegschoss, die sie in all den Jahren mit konsequentem Verdrängen sorgsam errichtet hatte.
Ich bin nicht; du bist nicht; er ist nicht – ein perfektes Ego erlitt Schiffbruch, ersoff mit einem gurgelnden Laut.
Als Lara um die Mittagszeit aufgewacht war, hatten die Kisten neben ihrem Bett gestanden wie Piratenschätze, und die Vorhänge waren zugezogen gewesen.
Das große Buch mit dem Ledereinband war das Erste, was Lara aus der Kiste zog. Schon im Keller bei Goldmann Investments hatte sie kurz darin geblättert.
Sie machte es sich auf dem Bett so bequem sie konnte und steckte ihr kaputtes Gesicht in ihre Kindheit; und da fand sie die Welt wieder. Die Welt in kleinen, farbigen Fensterchen. In frischen Mädchengesichtern, die lachten oder weinten. Wie nahe lag alles beisammen.
Lara hatte bisher nie über Kinder nachgedacht, nicht ernsthaft jedenfalls. Ihre Babys hießen Cotopaxi, Dusty und Sergeant Pepper . Und sie hatte den Sport.
Das Military-Reiten war ein Überbleibsel aus der Zeit, als sich Offiziersanwärter und ihre Pferde schweren Prüfungen stellen mussten, um Offiziere zu werden. Es ging um Vielseitigkeit und ums Durchhalten. Ein Wettkampf dauerte drei Tage, wobei am ersten Tag eine Dressurprüfung auf dem Programm stand, am zweiten Tag ein ausdauernder Geländeritt (Cross-Country) und am dritten Tag eine Sprungprüfung. Vor allem der zwei bis vier Kilometer lange Geländeritt über Hecken und Baumstämme hinweg war anspruchsvoll und führte nicht selten zu Stürzen.
Hätte sie Kinder gehabt, so wären auch die über Hecken und Gräben gesprungen, durch den Dreck und den Wald gerannt. Ganz egal, ob Mädchen oder Junge, da war sich Lara sicher. Aber im Gegensatz zu den Pferden hätten sich die kleinen Bälger nicht dressieren lassen. Nicht, wenn sie so gewesen wären wie sie.
Lara legte das Buch zur Seite und wühlte im Fundus der Vergangenheit. Ein seltsamer Eifer hatte sie erfasst. Der blaue Mond kam zum Vorschein. Lara nahm ihn und wog den faustgroßen Kieselstein in der Hand. Charlotte hatte
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