Sechselauten
ihm die Tasche von den Schultern, so dass er anhalten und alles neu richten musste. Mit Krücken hatte der Mensch eine Hand zu wenig. Er würde morgen im Spital anrufen und sich bei Doktor Häberli für den verpassten Termin entschuldigen. Sein Gips war überfällig.
Im Treppenhaus roch es vertraut nach Bohnerwachs. Und für einmal genoss er jede einzelne Stufe hinauf in den obersten Stock.
Als er vor seiner Wohnungstür stand und den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, hielt er plötzlich irritiert inne. Jemand war da gewesen. Das Schloss klemmte; es war aufgebrochen worden.
»Das gibt’s doch gar nicht«, murmelte er und trat ein.
Hundertmal hatte Eschenbach das Bild schon gesehen: ausgeräumte Schränke, Schubladen, die herausgezogen und ausgekippt worden waren. Aufgeschnittene Polster!
Es waren immer andere Wohnungen gewesen. Fremde Leute, fremde Dinge. Jetzt waren es seine eigenen Sachen, die überall verstreut herumlagen. Er fühlte, wie sein Brustkorb enger wurde.
Auf dem Boden in der Küche lag das Geschirr: Hutschenreuther Zwiebelmuster, in kleinen Teilen. Ein Hochzeitsgeschenk von Corinas Eltern; man hatte es stapelweise aus den Regalen gefegt. Zwischen den weißblauen Mosaikstücken, großen undkleinen, lagen die Gläser, mundgeblasen aus Hergiswil, ebenfalls in Scherben. Zuckerdose, Spaghettipackungen, Pelatibüchsen, Cornflakes, Teebeutel. Die Plastikbehälter mit Mehl, mit Pinien- und Sonnenblumenkernen, Maizena, Reis. Was oben auf den Regalen gestanden hatte, war heruntergerissen worden. Ganzes und Zerbrochenes belegte die Steinplatten. Der Kühlschrank stand offen, schwitzte und brummte, und auf dem Boden mischte sich eingetrocknete Milch mit Rahm und ein paar zerschlagenen Eiern.
Eschenbach wollte sich hinsetzen. Aber weil auch die Stühle umgeworfen worden waren, zog es ihn weiter. Von der offenen Küche durchs Wohnzimmer, das Schlafzimmer und am Ende noch durch Kathrins kleine Stube, die, seit er alleine lebte, sein Büro war. Überall dasselbe Bild. Mit der Zeit bekam das Durcheinander etwas merkwürdig Armseliges. Ein Sammelsurium von Habseligkeiten, das verstreut auf dem Boden lag: hier CD s und Bücher, dort Kleider, da Lebensmittel, Geschirr und Gläser …
Nach drei Rundgängen fand Eschenbach das Telefon. Es lag unter der ledergebundenen Gesamtausgabe von Gottfried Keller. Und wie schon hundertmal zuvor – aus anderen Wohnungen und von anderen Schauplätzen – rief der Kommissar die Spurensicherung an. Walter von Matts Nummer war eine der wenigen, die er auswendig kannte. Auch dann noch, wenn alles um ihn herum im Chaos versank.
Eschenbach saß in der Lobby des Hotel Storchen. Nachdem er mit von Matt telefoniert hatte, war er aus seiner Wohnung getürmt. Wenn die eigenen Sachen nicht mehr dort waren, wo sie hingehörten, sahen sie aus wie fremde.
Eine Dreiviertelstunde werde es dauern, bis er da war, hatte der Berner gemeint. Während Eschenbach wartete, hörte er Kobler zu. Sie hatte ihm auf der Combox eine Nachricht hinterlassen. »Ich hab’s mir überlegt«, sagte sie. Ihre Stimme klang versöhnlich. »Kommen Sie zurück. Ihre Suspendierung ist aufgehoben.Ich habe überreagiert … Mein Gott, auch ich mache Fehler. Melden Sie sich?«
Der Kommissar seufzte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Die Kellnerin, eine freundliche Thai, brachte den zweiten Whisky. Und mit einem besorgten Lächeln wies sie darauf hin, dass sie in der Lobby auch kleine Snacks servierten.
»Es geht schon«, sagte Eschenbach. Er ließ den Laphroaig eine Weile stehen, dann trank er ihn wie Whisky, in kleinen Schlucken und nicht wie den ersten, den er wie Wasser hinuntergeleert hatte.
Eine halbe Stunde später kam von Matt. Der Berner war allein. Er trug ein kleines Köfferchen bei sich und lehnte dankend ab, als ihn Eschenbach zu einem Drink einladen wollte. »Es ist besser, wir gehen gleich.«
Als Eschenbach bemerkte, dass er nur englische Pfund dabeihatte, übernahm von Matt die Rechnung.
Sie verließen das Hotel und gingen langsam die Straße hoch zu Eschenbachs Wohnung.
»Letztes Jahr gab es knapp dreitausend Einbrüche in der Stadt«, sagte von Matt auf halber Strecke. »Irgendwann erwischt es einen, das ist fast schon normal.«
»Das ist kein Zufall, Walter.« Eschenbach blieb einen Moment stehen. Er erzählte dem Berner, wie er am Flughafen empfangen worden war.
Von Matt hörte geduldig zu. Ein paarmal schob er die Unterlippe vor oder kratzte sich im Nacken. Dann gingen sie
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