Sechselauten
Stunden unruhigen Schlafs stand Eschenbach auf. Es war nicht mehr dunkel draußen – auch nicht hell. Ein schmieriger Dunst lag auf den Dächern. Und als er später durch den Flur humpelte, frisch geduscht, mit übergestreiftem Hemd und Hose auf halbmast, da nervten ihn die drei großen Müllsäcke wieder. Wie giftige, schwarze Pilze standen sie neben der Kommode beim Eingang und warteten darauf, dass man sie wegbrachte. Die ganze Sauerei des Einbruchs, abgepackt und zugeschnürt. Ein paar Scherben hatten das Plastik aufgeschlitzt und lugten gefährlich ins Freie. Hutschenreuther in Müllsäcken war kein schöner Anblick. Er hätte sie sofort nach unten gebracht. Aber mit dem Gips und den Scherben – er durfte sich auf keine Abenteuer mehr einlassen.
Auch Rosa, die ihm am Abend zuvor hatte helfen wollen, hatte er energisch davon abgehalten. Anderes war wichtiger.
Die Suche nach der Akte zum Beispiel. Er hatte Rosa damit beauftragt. »Rufen Sie bei der Pro Juventute an. Und beim Bund natürlich. Und tun Sie einfach so, als seien Sie selbst davon betroffen.« Er wusste, dass sich Rosa nichts einzureden brauchte. Sie war betroffen. Geschichten wie die der Jenischen und des Hilfswerks gingen ihr nahe. Viel zu nahe. Sie würde sich auf ihrer Suche im Räderwerk der Instanzen in eine emotionale Zeitbombe verwandeln. Unaufhaltsam zwar, aber auch unkontrollierbar.
Einen Moment hatte Eschenbach Zweifel. War es richtig,Rosa loszuschicken? Einfach so, in diesen Krieg, in dem er nicht einmal sicher war, ob sie den Gegner kannten.
Eschenbach wählte die Nummer von Ewald Lenz. Ungeduldig, den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, wartete er und knöpfte sich die Hose zu. In dieser Frühe, es war noch nicht sieben, da müsste der Alte doch zu Hause sein. Der Kommissar grummelte einen Fluch in den Hörer; und mit jedem weiteren Summton malträtierte Besorgnis seinen flauen Magen.
Ewald Lenz meldete sich nicht.
Als Eschenbach kurz vor acht in der Mühle eintraf, hatte er weder gefrühstückt noch einen Kaffee getrunken. Die Reinigungsmannschaft hatte auch das Kaffeepulver – den letzten Rest – einfach weggeworfen. Die Deppen!
Eschenbach zog an der Hausglocke. Er wusste, dass Lenz seine Wohnung nie zuschloss. Er wartete, und als nichts weiter geschah, öffnete er behutsam die Tür.
Es war still.
Der Kommissar wollte rufen. Ein »Hallo« als Zeichen, dass er es war. Immerhin war es unchristlich früh für einen Pensionär wie Lenz. Für einen, der manchmal bis tief in die Morgenstunden gegen sich selbst Schach spielte, las oder einfach nur nachdachte. Aber der Kommissar blieb wie angewurzelt stehen, mit seinen Krücken in der Hand und einem »Hallo«, das ihm im Hals steckengeblieben war.
Er hatte dieses Bild schon einmal gesehen. Bei sich zu Hause. Erst kürzlich. Hier, in der kleinen Bude von Lenz, war’s übersichtlicher. Kompakter. Aber am Ende war’s dasselbe.
»Ewald!«, schrie der Kommissar.
Nichts rührte sich.
Angetrieben von einer panischen Angst, dass dem Alten etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, spurtete Eschenbach los. Er rannte, so gut es mit Krücken eben ging, über Scherben, Bücher und Schachfiguren in Richtung Schlafzimmer. Die Wohnung hatte nur zwei Räume, sie war klein. Trotzdem dauerte es. Die Möbel waren umgekippt worden, standen oder lagen im Weg. Es war Slalom und Hürdenlauf in einem.
Als Eschenbach im Schlafzimmer stand, konnte er Lenz nirgends entdecken. Er räumte die aufgeschlitzte Matratze von der einen auf die andere Seite; einfach um sicherzugehen, dass Lenz nicht irgendwo darunterlag. Dann schritt er die Wohnung ab. Langsamer diesmal, nicht mehr so hektisch. Aber die Sorge um seinen alten Freund ließ Eschenbach die Knie zittern. Er rückte einen Stuhl zurecht, holte sein Handy hervor und setzte sich.
Er erreichte Jagmetti sofort, aber der hatte auch nichts von Lenz gehört. Überhaupt schien der Bündner den Ernst der Lage nicht richtig zu erfassen. Er werde Männer schicken, sagte Claudio. Morgen oder übermorgen. Dann, wenn er eben Zeit dafür fände. Und Männer, die er eigentlich nicht hatte, weil sie sich um die Fanmeile, um den VIP-Bereich der Public Viewing Zone und natürlich und vor allem um den Sicherheitszugang zum Lezistadion kümmern müssten.
An einem anderen Tag hätte Eschenbach geschrien. Er hätte diesen Bündner Knorz zusammengestaucht und ihm gezeigt, wo der Barthel seinen Most holt. Diesem Sitzpinkler und Kuscher. Schließlich hatte
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