Sechselauten
ob sie leben oder schon tot sind. Es ist nicht immer einfach, auch wenn wir uns die Akte des Hilfswerks mittlerweile beschaffen konnten.«
»Gut«, sagte ihr Vater. »Und für die heute noch lebenden Personen haben wir eine Aufteilung in die Gruppen A, B, C und D vorgenommen?«
»So haben wir es gemacht, Herr Bischoff. Und relevante Faktoren für die Zuteilung sind jeweils die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Bedeutung der Einzelnen. Wie wir es besprochen haben.«
»Ganz genau.«
Der Fremde fuhr fort: »Die Gruppe A: Darin sind hohe Politiker, Priester, kirchliche und andere Würdenträger, Bankdirektoren, erfolgreiche Sportler und Kulturschaffende et cetera.«
»Die Prominenz, um es einmal salopp zu formulieren.« Ihr Vater lachte. »Erstaunlich, zu was es diese Kinder gebracht haben.«
»Genau.« Ein leises, krächzendes Lachen ertönte ebenso vom Fremden. »Und Gruppe B: Dort sind die … nun, Sie haben gesagt, wir nennen sie die Passiven. Also wenn ein Mündel ins Umfeld einer prominenten Person gekommen ist. Zum Beispiel durch Heirat oder andere Pfade …«
»Ja, ja«, meldete sich Laras Vater nun etwas ungeduldig. »Auch wenn das Kind von einer einflussreichen Person adoptiert wurde. Wir können das ruhig beim Namen nennen. Charlotte istein typischer Fall. Sie ist meine Tochter, und ich gehöre zu den fünfhundert einflussreichsten Personen hier auf der Insel.«
»Ich weiß«, sagte der Fremde.
»Wir müssen da gar nicht um den heißen Brei herumreden, Herr Lenz. Es geht um Abhängigkeiten. Deshalb machen wir diese ganze Sache überhaupt. Wir ergründen ein Netzwerk, das sich künftig als überaus profitabel erweisen wird.«
Der fremde Mann, den ihr Vater Lenz nannte, fuhr fort: »In der C-Gruppe haben wir dann Personen in unauffälligem Umfeld und schließlich und endlich die D-Gruppe mit randständigen Problemfällen und denjenigen, die in der Zwischenzeit wieder den Weg zurück in die alte Sippe gefunden haben.«
»Exakt, wie wir es besprochen haben.«
»Jetzt komme ich zur Verteilung der Personen auf die Gruppen. Sie sind wie folgt: In A sind es 23 ehemalige Mündel, in B 72 , in C 104 und in D 213 .«
Eine kurze Stille trat ein.
»Das sind mehr als fünfzig Prozent«, meldete sich ihr Vater wieder. »Und das ist ja nicht einmal schlecht. Ich meine, wenn man sich eine Übungskritik zu dieser Hilfswerk-Aktion erlauben darf. Über die Hälfte der Kinder hat es geschafft.«
»Die Toten habe ich allerdings nicht mit berücksichtigt.«
»Natürlich, Lenz. Aber die sind nicht von Interesse. Wir machen hier nichts für die Geschichtsbücher. Konzentrieren wir uns auf das, was wir haben. Das ist unser Kapital.«
Ein Räuspern erklang. »Ich habe mir noch überlegt, ob man in den Kategorien A und B noch Untergruppen bilden sollte«, sagte der Fremde.
»Das können wir später immer noch tun. Wissen Sie, Herr Lenz, wir legen hier gerade die Basis für ein sehr erträgliches Netzwerk. Säen und Ernten, das war schon immer meine Devise. So gesehen, ist diese Akte das Blumenbeet für die Geschäfte von morgen. Mein Freund Kronenberger, das ist ein schönes Beispiel. Habe ich Ihnen die Geschichte schon erzählt?«
»Nur kurz. Sie hätten Unterlagen dazu, haben Sie gesagt.«
»Habe ich Ihnen die noch nicht gegeben? Also ich werde noch vergesslich aufs Alter …«
Ein Geräusch, wie wenn ein Stuhl verrückt wurde. Dann Schritte und das Öffnen eines Schrankes oder einer Schub-
lade. Wieder Schritte … »Hier sind die Sachen. Es ist sozusa-
gen die Ur-Akte. So bin ich überhaupt auf diese Idee gekommen.«
»Ich bin froh, wenn Sie es mir kurz erzählen«, sagte der Fremde.
»Gut. Ich versuche mich kurzzufassen … Es ist nämlich eine verrückte Sache. Als mich damals Dr. Siegfried, also der Leiter des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse, anrief, er hätte nun doch ein Kind für uns, da wollte ich natürlich auch die Hintergründe erfahren. Über die Eltern, die Umstände … Na, Sie wissen schon. Ist ja auch verständlich. Bestimmt hätten Sie auch so gehandelt, Herr Lenz.«
»Bestimmt.«
»Wer will schon die Katze im Sack, nicht wahr? Aber Dr. Siegfried war alles andere als angetan. Egal. Machte mir wenig Eindruck. Sie kennen mich ja inzwischen.«
»Und ob.« Ein Räuspern.
»Und siehe da. Es war eine wundersame Geschichte, die ich zutage förderte. Der alte Luzius Kronenberger, dazumal Direktor der Haftanstalt Bellechasse, der hatte das schwangere Mädchen in
Weitere Kostenlose Bücher