Sechselauten
sortierte die Klarsichthüllen: rote, blaue, gelbe und grüne. »Im Büro war ich ewig nicht mehr.«
Eschenbach ging in die Küche und kam etwas später mit zwei Espressi und einer Karaffe Leitungswasser zurück.
Rosa saß versunken in Gedanken und Papieren auf der Couch. »Wussten Sie eigentlich, dass trotz der schweren Anschuldigungen gegen das Vorgehen des Hilfswerks nie eine gerichtliche Untersuchung von Staates wegen eingeleitet worden ist? Und dies, obwohl sich einzelne Betroffene immer wieder auch gerichtlich gewehrt haben.«
»Schlafende Hunde«, sagte der Kommissar nachdenklich. Er setzte sich neben sie. »Und so, wie es aussieht, ist nun jemand daran, sie zu wecken.« Er schilderte kurz seinen Ausflug zu Lenz in der Mühle, der im Krankenhaus geendet hatte. »Jemand war da und hat aufgeräumt – und zwar gründlich. Ich vermute, man hat es nun auf ihn abgesehen.«
»Lenz, aber was hat denn unser Lenz damit zu tun?«
»Auch unser Lenz hat Geheimnisse – und ein großes Herz. Jedenfalls stehen jetzt zwei unserer Männer vor seiner Tür im Triemli.«
»Gott sei Dank«, stieß Rosa aus. Sie schien sichtlich erleichtert. Einen kurzen Moment blickte sie über den Brillenrand, dann fragte sie: »Hat Jagmetti das veranlasst?«
Eschenbach nickte zustimmend. Dass er Jagmetti deswegen anflehen musste und sich für sein »Arschloch« entschuldigt hatte, ließ er unerwähnt.
»Ich habe schon befürchtet, dass ihn die Kobler restlos unter dem Pantoffel hat«, murmelte Rosa. Sie legte ihre Papiere wie Patiencekarten vor sich auf den Tisch. Dann räusperte sie sich. Es war kein Verlegenheitshüsteln, und sicher hatte sie auch keine Halsschmerzen. Vielmehr war es ein Auftakt – so als hebe ein Dirigent den Taktstock, auf dass der Saal zu verstummen habe.
Eschenbach lehnte sich zurück.
»Es gibt diese Akte nicht«, sagte sie. Eine Eröffnung mit Paukenschlag. Und wie bei einem Paukenschlag üblich, schwieg Rosa nun eine Weile, damit der Satz seine Wirkung entfalten konnte, und genoss die Stille. Dann setzte sie ihre Brille auf und begann: »Es gibt eine Menge Hinweise, was diese Akte anbelangt. Gerüchte halt. Lauter Möglichkeiten und vor allem Ausreden. Ich habe mit einem Haufen Leute gesprochen, telefoniert und gefragt. Aber wirklich gefunden habe ich nichts.«
Eschenbach schwieg. Die Papierstöße auf dem Tisch vermittelten ihm das Gefühl, dass nichts nicht gar nichts bedeutete.
»Der Druck der Öffentlichkeit«, fuhr Rosa fort, »die Kritik an der Ideologie und dem Vorgehen des Hilfswerks führten 1973 zu einem abrupten Ende. Pro Juventute gab die Auflösung der letzten noch laufenden Vormundschaften über jenische Mündel bekannt. Die Fälle wurden von den zuständigen Behörden übernommen.« Sie räusperte sich. »Ich habe nichts darüber gefunden, dass sich die Pro Juventute klar und überzeugend von der Ideologie und dem Vorgehen des Hilfswerks distanziert hätte. Gegenüber der Öffentlichkeit und auch gegenüber den Jenischen wurde über die ganze Tragweite und die genauen Details dieses sozialpolitischen Massenexperiments keine Rechenschaft abgelegt. Man beschränkte sich darauf, neben den positiven Leistungen auch Fehler in einzelnen Fällen einzuräumen.« Rosa zückte ein Papier. »Fehler in einzelnen Fällen … das steht so in der Pressemitteilung der Pro-Juventute-Stiftungskommission vom Frühjahr 1973 .«
»Sie betreiben Geschichtsschreibung, Frau Mazzoleni. Das bringt uns nicht weiter.«
»Warten Sie doch.« Sie nahm das nächste Häufchen Papier zur Hand: »Von 1981 bis 1983 tagte eine Studienkommission des damaligen Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD und übergab am 27 . Juni 1983 den Bericht ›Fahrendes Volk in der Schweiz – Lage, Probleme, Empfehlungen‹ der Öffentlichkeit.
Dieser Bericht, an dessen Ausarbeitung auch Vertreter der Jenischen teilnahmen, geht die Thematik auf breiter Ebene
an. Er umfasst auch den Abschnitt ›Folgen der Aktion Kinder der Landstrasse der Pro Juventute‹. Dort wird Folgendes festgehalten. Ich zitiere: Heute besteht vor allem ein persönliches und wissenschaftliches Informationsbedürfnis. Die Stiftung Pro Juventute, in deren Archiv alle Akten über die Aktion Kinder der Landstrasse aufbewahrt werden, sollte diese für beide Zwecke zur Verfügung stellen. Missbräuche müssen jedoch verhindert werden.«
Rosa trank den Espresso, der inzwischen kalt geworden war. »Man bekommt Gallensteine, wenn man sich mit diesen Dingen
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