Second Face
verdeckt dabei den Bildschirm, damit Anne nichts von Kais Eintrag sieht.
»Nicht nötig! Wozu das denn?«
Aber Marie lässt sich nicht abschütteln. Gemeinsam fahren sie mit der S-Bahn zu Kai. Seine Mutter öffnet, er ist nicht zu Hause.
»Er wollte sich noch mit Freunden treffen, hat er gesagt. Irgendwas feiern.«
»Davon hat er mir nichts erzählt!«, sagt Anne. »Was will er denn feiern?«
Die Mutter hat keine Ahnung.
Marie holt tief Luft. Sie kann sich vorstellen, was Kai feiert. Und sie kann sich auch vorstellen, wie er und seine Freunde beisammensitzen und über Anne herziehen. Ihr wird übel bei dem Gedanken. Anne war nicht mehr als eine Wette, die Kai gewonnen hat. Und nun hat er sie mit einem Häkchen hinter ihrem Namen abserviert.
Zu Hause erwarten die Eltern sie schon ungeduldig und voller Begeisterung für den Pferdehof auf Ummanz. »Schade, dass ihr nicht mitgekommen seid!«
Marie teilt diesen Wunsch.
Anne kann es kaum erwarten, dass am Montag die Schule beginnt. Spätestens da wird sie Kai wiedersehen. »Ich verstehe das nicht. Warum ruft er nicht an?«
Marie fürchtet den Montagmorgen.
Es wird zunächst nicht so schlimm wie erwartet. Die Sache mit der Liste und dem Häkchen verstehen offenbar nur Eingeweihte: die Frauen, die er für seine Wette benutzt hat, und seine Freunde. Die Ersteren schweigen aus Scham, die Freunde haben immerhin noch so viel Anstand, dass sie ihre furchtbare Wette nicht an die große Glocke hängen.
Marie ist erleichtert. So wird Anne zumindest nicht zum Gespött der ganzen Schule. Trotzdem ist es schrecklich, mitanzusehen, wie Kai sie behandelt. Als sie am Montag in der großen Pause auf ihn zugeht und ihn umarmen will, stößt er sie zurück. Marie, die so etwas befürchtet hat, ist Anne gefolgt und hört, wie er zu seinen Freunden sagt: »Haltet mir die Schlampe vom Hals!« Sie gehen lachend davon.
Als Marie die Schwester erreicht, steht diese bewegungslos da und starrt den Jungen hinterher. Sie ist kreidebleich im Gesicht. Marie nimmt sie in den Arm. Anne lässt es geschehen.Sie sagt kein Wort. Wenn sie wenigstens weinen würde, denkt Marie.
Auch in den folgenden Tagen redet Anne nur dann, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Sie isst kaum etwas, wirkt so, als wäre sie innerlich gestorben.
Die Eltern machen sich große Sorgen, fragen Marie aus. Marie schweigt. Erst als die Mutter Anne zum Arzt schleppen will, sagt sie: »Es ist nichts. Sie hat nur ein wenig Liebeskummer.«
»Ach, du liebe Güte!«, sagt der Vater, immer noch besorgt, aber doch schon ein wenig erleichtert. »Wenn es weiter nichts ist. Das hatten wir alle! Da muss man durch!«
Die Mutter nickt. Zum Glück nur Liebeskummer, nichts Ernstes.
In der Schule kochen die Gerüchte. So wie es sich schnell herumgesprochen hat, als Kai und Anne ein Paar waren, so schnell wissen auch alle, dass sie wieder getrennt sind. Und wer genau beobachtet, kann an Annes Gesicht ablesen, wer hier wen sitzen gelassen hat. Außerdem ist Kai dafür bekannt, dass er die Mädchen so schnell wechselt wie andere ihre Unterhosen. Jedenfalls kann Anne sich nirgendwo mehr blicken lassen, ohne dass sie mitleidige oder höhnische Blicke treffen, je nachdem, wie man zu ihr steht.
Marie leidet mit ihr.
Als dann kurz vor den Sommerferien auch noch die Wahlpflichtkurse für das nächste Schuljahr bekannt gegeben werden und Kai sich im gleichen Musikkurs wie Anne befindet, wirft sie das Handtuch. »Vielleicht ist Ummanz doch keine schlechte Idee«, sagt sie beim Abendessen zur großen Überraschung der Eltern. Auch Marie schaut sie verblüfft an.
»Bist du sicher?«, fragt der Vater nach einer glücklichen Schrecksekunde.
Anne nickt. »Zeit für einen Tapetenwechsel.«
»Es hat sich noch kein anderer Käufer gefunden«, meint die Mutter. »Aber wenn wir zusagen, gibt es kein Zurück mehr.«
»Kein Zurück, das ist es!«, sagt Anne und in diesem Moment meint sie das wohl wirklich ehrlich.
Marie ist genauso überrascht wie die Eltern, aber es ist eine gute Entscheidung. Anne wird nie vergessen können, solange sie Kai und seinen Freunden täglich über den Weg läuft. Allerdings hat sie ihre Zweifel, ob Anne das Leben auf der Insel dauerhaft aushält.
4
Der Abschied von der Stadt und den Freunden einige Wochen später ist für alle schwerer als gedacht. Aber auch wenn Ummanz eine kleine Insel ist, liegt es ja nicht am Ende der Welt und ist innerhalb von drei Stunden Fahrt zu erreichen.
Es regnet, als sie ankommen. Nebel
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