Second Face
mal sind wir ihn los!«
Am nächsten Morgen im Schulbus fehlt Tom. Dafür redet die ganze Schule von nichts anderem. Wie ein Lauffeuer hat sich die ganze Geschichte herumgesprochen. Selbst im Unterricht wird an diesem Morgen auf Anweisung des Direktors in den ersten zwei Stunden über den richtigen Umgang mit dem Internet diskutiert.
»Ende gut! Alles gut!«, sagt Marie erleichtert, als sie mittags im Bus sitzen. Anne nickt, aber in Gedanken ist sie weit weg. Fast alles ist gut, denkt sie. Nur fast alles.
Es ist kurz vor dem Abendessen, als Anne am Samstag in Maries Zimmer kommt. »Hast du Lust, an den Strand zu reiten? Mutter hat einen Picknickkorb gepackt.«
Marie schaut von ihren Hausaufgaben hoch. »Ich muss noch diesen Deutschaufsatz fertig schreiben.«
»Ach, komm. Wir müssen feiern.«
Nur zögernd folgt Marie der Schwester. Eigentlich hat siejetzt keine Lust zum Feiern. Sie ist froh, dass die Sache mit Annes Fotos geklärt ist, sie ist froh, dass sie Tarao als Tom entlarvt hat. Und sie ist froh, dass Anne und sie wieder mehr Zeit miteinander verbringen.
Aber sie weiß auch, dass das Letzte nur vorübergehend sein wird. Anne wird ab morgen wieder in ihren Surfclub gehen. »Du kannst doch mitkommen. Da sind viele nette Typen dabei.«
»Mal sehen!«, hat Marie geantwortet. Mit Annes Freunden kann sie nicht so viel anfangen. Und die netten Avatare in SL kann sie auch nicht mehr besuchen. Schließlich ist auch ihr Account gesperrt worden, nachdem sie verraten hat, dass sie erst fünfzehn ist.
Sie satteln die Pferde und zum ersten Mal seit langer Zeit reiten sie gemeinsam aus. Der Strand, das Meer. Die Sonne steht tief am Himmel. »Wir werden einen traumhaften Sonnenuntergang haben«, sagt Anne und springt genau an der Stelle vom Pferd, die Marie nie wieder aufsuchen wollte.
Anne breitet die Decke aus, genau da, wo Marie mit Lirim gesessen hat, als er aus dem Meer gekommen ist.
»Lass uns lieber woanders hingehen. Diese Stelle … gefällt mir nicht. Ich möchte hier auf gar keinen Fall …«
»Aber wieso denn nicht?« Anne schaut die Schwester verwundert an. »Diese Stelle ist doch besonders schön. Von hier aus kann man den Sonnenuntergang hinter Hiddensee am besten sehen. Es soll so romantisch sein, habe ich gehört …«
»Bitte, Anne, lass uns weitergehen.«
Ohne auf Maries Protest zu hören, stellt Anne den Picknickkorb ab und breitet die Decke aus. »Ich habe gehört, dass hier manchmal Wassermänner aus dem Meer kommen«, sagt sie und grinst Marie dabei an.
Maries Augen füllen sich mit Tränen. Da legt Anne den Arm um sie und drückt sie ganz fest. »Nicht weinen! Schau mal!«
Sie zeigt auf das Wasser.
Ein Kopf ist zu sehen, der langsam näher kommt. Er tanzt auf und ab in den Wellen, treibt näher und näher an den Strand. Neben dem Kopf kommen Arme zum Vorschein, ein Oberkörper und schließlich der ganze Mensch. Er kommt aus dem Wasser, die Tropfen rennen an seinem braun gebrannten Körper hinunter. Die langen schwarzen Haare kleben an seinem Kopf.
Wie ein wunderschöner Wassergeist steht er vor ihr und schaut sie an.
Marie reibt sich die Augen. Ein Traum, eine Fata Morgana. Sie dreht sich zu Anne um, aber die steht bereits oben auf der Düne, winkt ihr zu und verschwindet.
Der Wassermann aber steht immer noch da und sieht sie an.
Es ist wie damals, bis auf eine winzige Kleinigkeit. Marie läuft ans Wasser, fischt eine Handvoll brauner Algen heraus und wickelt sie Lirim um die Füße.
»Wassermänner haben immer Algenfüße«, sagt sie, während Lirim ihre Hand nimmt und sie an sich zieht.
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