Second Face
Straße führt durch die Insel. Ansonsten gibt es Wanderwege und Betonbohlen, die man im Schritttempo auch mit dem Auto befahren könnte.
»Wie soll ich das noch drei Jahre aushalten?«, jammert Anne jedes Mal. »Sobald ich achtzehn werde, bin ich weg! Ich bleibe keine Sekunde länger als nötig.«
Annes Stimmungen sind schon immer schwankend gewesen.»Sie ist ein Schiff auf sturmgebeutelter See!«, hat der Vater einmal gesagt, und alle fanden das sehr witzig und vor allem sehr treffend. Aber nun ist niemand nach Lachen zumute, denn Annes Stimmungsschiff befindet sich im Dauersturm, worunter alle gemeinsamen Unternehmungen, angefangen bei den Mahlzeiten in der gemütlichen Diele, leiden.
Alle sind froh, als die Ferien vorbei sind und die Schule wieder anfängt und damit die Chancen, neue Freunde kennenzulernen.
Die Schule, die die Zwillinge nun besuchen müssen, liegt zweiundzwanzig Kilometer entfernt in Bergen. Es ist das einzige Gymnasium der Insel mit über tausend Schülern.
»Tausend Schüler!«, sagt die Mutter. »Da wird es ja wohl ein paar geben, die ihr gut findet.«
Als der Bus am ersten Tag nach den Sommerferien kurz nach sieben Uhr Waase in Richtung Bergen verlässt, sitzen einige Jugendliche in Annes und Maries Alter darin, die die beiden neugierig betrachten.
Mehr als ein Naserümpfen hat Anne nicht für sie. »Alles Ummanzen!«, flüstert sie Marie zu.
Nur Pech, dass der Junge mit der Igelfrisur ausgesprochen gute Ohren hat und außerdem so frech ist, wie er aussieht. »Und ihr seid doch die beiden Hamburger! Mit Cheese oder ohne?«
»So wie die aussehen, eher vegetarisch!«, antwortet eins der Mädchen.
Alle lachen.
Marie bekommt einen roten Kopf. Selbst Anne verschlägt es die Sprache, nur ihre Augen schießen wütende Blicke auf den Jungen, der sie aber nur frech angrinst.
Schweigend sitzen sie da und beobachten die Ummanzen, die sie nicht weiter beachten. Die unterhalten sich lautstarküber das kommende Tonnenfest im September und wer neuer Tonnenkönig werden würde.
»Was soll denn das sein: Tonnenkönig?«, flüstert Anne Marie zu.
»Das spielen die seit über 100 Jahren hier«, flüstert Marie, die sich im Gegensatz zu ihrer Schwester ausführlich im Internet schlaugemacht hat. »Da wird ein Heringsfass an einen Baum gehängt, und dann reiten sie drauf zu und müssen das Fass mit einer Stange zerschlagen. Wer das letzte Stück runterschlägt, ist Heringstonnenkönig.«
»He-rings-tonnen-könig? Das glaub ich jetzt nicht!« Anne ist entsetzt. Sie träumt davon, Germany’s next Topmodel zu werden, und da wird sie auf eine Insel verschlagen, wo man Heringstonnen von Bäumen abschlägt. »Hier werd ich nicht alt, das schwör ich dir. Und wenn ich in Hamburg unter ’ner Brücke schlafen muss.« Ihre Stimme überschlägt sich, die Ummanzen schauen herüber.
»Tu dir keinen Zwang an. Ich wusste gar nicht, dass man in Hamburg unter Brücken schläft.« Wieder dieser Junge mit der Igelfrisur. Die Ummanzen lachen.
Und wenn es nicht Anne gewesen wäre, über die er sich lustig macht, hätte Marie wohl mitgelacht.
»Eigentlich sieht der mit der Igelfrisur doch ganz süß aus!«, flüstert sie Anne zu.
»Hey, ihr Hamburger! Flüstern verboten!«, schreit der in diesem Moment. »Wer nichts zu verbergen hat, kann laut reden! Hat euch das eure Mami nicht beigebracht?«
»Sei nicht so streng mit ihnen! Die schlafen doch unter ’ner Brücke! Da lernt man kein Benehmen«, ruft eins der Mädchen. Wieder lachen alle.
Anne streckt ihnen die Zunge heraus. »Süß?«, sagt sie zu Marie, diesmal so laut, dass man es im ganzen Bus hören kann. »Der Hodenkobold da?! Mit
dem
Wald-und-Wiesen-Hemd?Damit geht man bei uns nicht mal zum Holzfällen. Das ist seit Jahrhunderten out.«
Marie sieht in den Gesichtern der Ummanzen, dass die Chance für sie, hier jemals neue Freunde zu finden, soeben gen null gefallen ist. Aber das hat zumindest Anne ohnehin nicht vor.
Von nun an wird alles, was Anne spießig findet, und das ist alles, aber auch alles hier auf Ummanz, mit dem Zusatz »Wald-und-Wiesen-« versehen. Um sich von den Ummanzen abzusetzen, schminkt sich Anne noch mehr als sonst, was jeden Morgen im Bus neuen Spott hervorruft.
»Da kommt ja unser Lackhuhn! Hast du dich für uns so aufgepimpert?«, ruft der Junge mit der Igelfrisur, und auf sein Kommando fallen alle im Chor ein: »Tok, tok, tok! Das Lackhuhn! Tok, tok, tok!«
Während Anne nach dem ersten Schock nur noch ein verächtliches Grinsen
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