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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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werde ich nie vergessen! Ich sehne mich zurück nach dieser Zeit, viele sehnen sich danach zurück, das weiß ich. Meine Freunde sehnen sich alle danach zurück. Unsere erste Touristenreise ins Ausland. Nach Berlin. Zwei junge deutsche Mädchen, die hörten, dass wir russisch sprachen, kamen auf unsere Gruppe zu: »Seid ihr Russen?« »Ja.« »Perestroika! Gorbi!« Sie umarmten uns. Ich frage mich: Wo sind diese Gesichter? Wo sind die schönen Menschen, die ich in den neunziger Jahren auf den Straßen gesehen habe? Sind sie etwa alle ausgereist?
    Als ich erfuhr, dass er Krebs hat, habe ich die ganze Nacht geweint, und am Morgen bin ich zu ihm ins Krankenhaus gefahren. Er saß auf dem Fensterbrett, ganz gelb und sehr glücklich, er war immer glücklich, wenn sich in seinem Leben etwas veränderte. Erst das Lager, dann die Verbannung, dann die Freiheit und nun wieder etwas anderes … Der Tod, das war eine weitere Veränderung … »Hast du Angst, dass ich sterbe?« »Ja.« »Nun, erstens habe ich dir nichts versprochen. Und zweitens wird das noch nicht so bald sein.« »Wirklich?« Ich glaubte ihm, wie immer. Ich wischte mir die Tränen ab und redete mir zu, dass ich ihm wieder helfen müsse. Ich weinte nicht mehr … bis zum Schluss weinte ich nicht mehr … Ich ging jeden Morgen in sein Zimmer, und hier begann unser neues Leben, erst hatten wir zu Hause gelebt, nun lebten wir im Krankenhaus. Ein halbes Jahr verbrachten wir noch im Krebszentrum …
    Er las nur noch wenig … Er erzählte mehr …
    Er wusste, wer ihn denunziert hatte. Ein Junge … sie besuchten beide einen Zirkel im Haus der Pioniere. Er hatte, von sich aus oder weil er dazu genötigt wurde, einen Brief geschrieben: Gleb habe auf den Genossen Stalin geschimpft und seinen Vater verteidigt, einen Volksfeind. Der Vernehmer hat Gleb diesen Brief beim Verhör gezeigt. Sein Leben lang befürchtete Gleb … befürchtete er, der Denunziant könne erfahren, dass er Bescheid wusste … Als er hörte, dass derjenige ein behindertes Kind bekommen hatte, erschrak er – vielleicht war das eine Strafe? Zufällig wohnten wir sogar eine Zeitlang gar nicht weit voneinander entfernt, begegneten uns oft auf der Straße. Beim Einkaufen. Grüßten einander. Als Gleb tot war, erzählte ich einer gemeinsamen Freundin davon … Sie konnte es nicht glauben: » N. ? Das kann nicht sein, er spricht immer so gut von Gleb, wie eng sie als Kinder befreundet waren.« Ich begriff, dass ich schweigen musste. Ja … Ein solches Wissen ist gefährlich … Er wusste das …Bekannte aus dem Lager kamen nur selten zu uns, er suchte ihre Gesellschaft nicht. Wenn sie da waren, fühlte ich mich fremd; sie kamen aus einer Zeit, da es mich noch nicht gegeben hatte. Sie wussten über ihn mehr als ich. Ich entdeckte, dass er noch ein anderes Leben hatte … Ich begriff, dass eine Frau über ihre Demütigungen sprechen kann, ein Mann dagegen nicht – eine Frau kann das leichter zugeben, denn sie ist innerlich irgendwie auf Gewalt vorbereitet, selbst der Geschlechtsakt … Jeden Monat beginnt die Frau das Leben von neuem … durch ihre Zyklen … Die Natur selbst hilft ihr. Von den Frauen, die im Lager gesessen haben, sind viele allein. Ich habe nur wenige Paare erlebt, bei denen beide – er und sie – von dort kamen. Sie hatten ein Geheimnis, das sie nicht vereinte, sondern trennte. Zu mir sagten sie »Kindchen«.
    »Findest du es interessant mit uns?«, fragte Gleb, wenn die Gäste gegangen waren. »Was für eine Frage?«, antwortete ich dann gekränkt. »Weißt du, was ich befürchte? Als das alles interessant war, hatten wir einen Knebel im Mund, und jetzt, da wir alles erzählen können, ist es zu spät. Das will eigentlich keiner mehr hören. Oder lesen. Die Verleger bekommen immer neue Manuskripte über das Lager, und sie geben sie gleich zurück, ohne sie überhaupt zu lesen. ›Schon wieder Stalin und Berija? Das verkauft sich nicht. Das haben die Leser satt.‹«
    … Er war ans Sterben gewöhnt … Er hatte keine Angst vor diesem kleinen Tod … Die Brigadiere im Lager, meist Kriminelle, verkauften die Brotrationen der Gefangenen, verspielten sie beim Kartenspiel, und die einfachen Gefangenen aßen Bitumen. Schwarzes Bitumen. Viele starben daran, weil der Magen verklebte. Er aber hörte einfach auf zu essen, er trank nur noch.
    … Ein Junge floh … absichtlich, damit sie ihn erschossen … Durch den Schnee … bei Sonnenschein … Beste Sicht. Sie haben ihn in den Kopf geschossen,

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