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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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eine kleine Tochter. Er umarmte sie, und sie fing an zu weinen. Er hatte irgendetwas an sich … Er war wahnsinnig einsam … Auch bei mir … Das weiß ich: Auch bei mir …
    Nun verkündete er allen stolz: »Ich habe Familie.« Jeden Tag staunte er über das normale Familienleben, war überhaupt sehr stolz darauf. Aber die Angst … trotz allem die Angst … er konnte nicht ohne sie leben. Die Angst. Er erwachte nachts schweißnass vor Entsetzen: Dass er sein Buch nicht beenden würde (er schrieb ein Buch über seinen Vater), dass er keinen neuen Übersetzungsauftrag bekommen (er machte technische Übersetzungen aus dem Deutschen), seine Familie nicht ernähren können würde. Dass ich ihn plötzlich verlassen würde … Erst kam die Angst, dann die Scham für diese Angst. »Gleb, ich liebe dich. Wenn du möchtest, dass ich für dich zum Ballett gehe und tanze, dann tue ich das. Für dich würde ich alles tun.« Im Lager hat er überlebt, aber im normalen Leben – jeder Milizionär, der sein Auto anhielt, konnte bei ihm einen Herzinfarkt auslösen … oder ein Anruf von der Hausverwaltung … »Wie hast du nur dort überlebt?« »Ich wurde als Kind sehr geliebt.« Uns rettet nur die Menge der empfangenen Liebe, das ist unsere Kraftreserve. Ja … Nur die Liebe rettet uns. Die Liebe, das ist ein Vitamin, ohne das der Mensch nicht leben kann, ohne das sein Blut gerinnt, sein Herz stehenbleibt. Ich war Krankenschwester … Pflegerin … Schauspielerin … Ich war alles.
    Wir hatten Glück, finde ich … Es war eine wichtige Zeit … Die Perestroika! Das fühlte sich an wie ein Fest, ja. Als ob wir jeden Moment fliegen würden. Freiheit lag überall in der Luft. »Gleb, das ist deine Zeit! Jetzt kannst du alles schreiben. Und veröffentlichen.« Das war vor allem ihre Zeit … die Zeit der »Sechziger« 2 . Ihr Triumph. Da habe ich ihn glücklich gesehen: »Ich habe noch den endgültigen Sieg des Antikommunismus erlebt.« Das Wichtigste, wovon er geträumt hatte, war geschehen: Die Kremlmauer war gefallen. Jetzt würde man die kommunistischen Denkmäler abreißen und Lenins Sarkophag vom Roten Platz holen, die Straßen würden nicht mehr die Namen von Mördern und Henkern tragen … Eine Zeit der Hoffnungen! Die »Sechziger«, mag man heute auch alles Mögliche über sie sagen – ich liebe sie alle. Sie waren naiv? Romantiker? Ja!!! Ganze Tage lang las er Zeitungen. Morgens ging er zum Zeitungskiosk vor unserem Haus. Mit einer großen Einkaufstasche. Er hörte Radio und sah fern. Ununterbrochen. Damals waren alle so verrückt. Freiheit! Allein das Wort berauschte uns. Wir alle waren mit »Samisdat« 3 und »Tamisdat« 4 aufgewachsen. Mit dem Wort waren wir aufgewachsen. Mit der Literatur. Wie haben wir geredet! Wie schön damals alle redeten! Ich kochte das Mittag- oder Abendessen, er saß mit der Zeitung neben mir und las vor: »Susan Sontag: Kommunismus, das ist Faschismus mit menschlichem Antlitz …« »Und hier, hör mal …« Wir lasen zusammen Berdjajew 5 … Hayek 6 … Wie hatten wir nur davor gelebt, ohne diese Zeitungen und Bücher? Wenn wir das früher gekannt hätten … Dann wäre alles anders gewesen …. Bei Jack London gibt es eine Erzählung darüber, dass man auch in einer Zwangsjacke leben kann, man muss sich nur dünn machen, sich einzwängen und sich daran gewöhnen. Dann kann man sogar träumen. So hatten wir gelebt. Und wie würden wir nun leben? Ich wusste es nicht, stellte mir aber vor, dass es ein gutes Leben für alle sein würde. Daran hatte ich keine Zweifel. Doch nach Glebs Tod fand ich in seinem Tagebuch eine Notiz: »Ich lese wieder Tschechow … Die Erzählung Der Schuster und das Böse . Ein Mann verkauft dem Teufel seine Seele im Austausch für das ›Glück‹. Und wie sieht das Glück in der Vorstellung des Schusters aus? So: in einer Kutsche herumfahren, in einem neuen Hemd und chromledernen Stiefeln, neben sich ein dickes, vollbusiges Weib und in einer Hand einen Schinken, in der anderen ein Viertel Kornbrand. Mehr braucht er nicht …« (Sie wird nachdenklich.) Er hatte offensichtlich Zweifel … Aber wir sehnten uns so sehr nach etwas Neuem. Etwas Gutem und Hellem, etwas wirklich Gerechtem. Glücklich liefen wir auf Demonstrationen und Kundgebungen … Früher hatte ich Angst vor Menschenmassen. Vor der Menge. Ich hatte eine Abneigung gegen die Menge, gegen die Festaufmärsche. Die Fahnen. Hier aber gefiel mir alles … überall so vertraute Gesichter … Diese Gesichter

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