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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Beispiel nie »Freiheit«, sondern immer »draußen«. »Nun bin ich also draußen.« In seltenen Momenten … Da erzählte er so anschaulich, so leidenschaftlich … Ich konnte seine dortigen Freuden richtig nachempfinden: Wie er Stücke von einem Gummireifen ergattert und sie unter seine Filzstiefel gebunden hatte, und als sie auf Transport gingen, war er so froh über diese Reifengummi. Einmal bekamen sie einen halben Sack Kartoffeln, und irgendwo »draußen« bei der Arbeit schenkte ihnen jemand ein großes Stück Fleisch. In der Nacht kochten sie im Kesselraum daraus eine Suppe. »Weißt du, wie das geschmeckt hat! So wunderbar!« Als er entlassen wurde, bekam er eine Entschädigung für seinen Vater. Sie sagten zu ihm: »Wir schulden Ihnen Geld für das Haus, für die Möbel …« Sie blätterten ihm eine Menge Geld hin. Er kaufte sich einen neuen Anzug, ein neues Hemd, neue Schuhe und einen Fotoapparat, und dann ging er ins beste Moskauer Restaurant »National«, bestellte dort das Allerteuerste, trank Kognak und Kaffee und aß dazu die hausgemachte Torte. Als er fertig war und satt, bat er jemanden, ihn in diesem glücklichsten Augenblick seines Lebens zu fotografieren. »Dann komme ich zurück in die Wohnung, wo ich damals lebte«, erzählte er, »und ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich kein Glück verspüre. In diesem Anzug, mit diesem Fotoapparat … Warum empfand ich kein Glück? Ich dachte plötzlich an jene Reifen, an die Suppe im Kesselraum – ja, das war Glück gewesen.« Und wir versuchten zu verstehen … Ja … Wo wohnt dieses Glück? Das Lager hätte er um nichts in der Welt hergegeben … getauscht … Das war sein geheimer Schatz, sein Reichtum. Von sechzehn bis fast dreißig war er im Lager … Rechnen Sie es sich aus … Ich fragte ihn oft: »Und wenn sie dich nicht eingesperrt hätten?« Darauf scherzte er: »Dann wäre ich ein Dummkopf und würde einen roten Rennwagen fahren. Den allerneuesten.« Erst ganz am Ende … Am Ende … als er schon im Krankenhaus lag … Da sprach er mit mir zum ersten Mal ernst darüber: »Das ist wie im Theater … Vom Zuschauerraum aus siehst du ein schönes Märchen – die herausgeputzte Bühne, glänzende Schauspieler, geheimnisvolles Licht, aber wenn du hinter die Kulissen kommst … Gleich hinterm Vorhang liegen zerbrochene Bretter herum, Lumpen, nicht zu Ende bemalte und liegengelassene Leinwände … leere Wodkaflaschen … Essensreste … Keine Spur von einem Märchen. Alles dunkel und schmutzig … Ich bin hinter den Kulissen gewesen – verstehst du?«
    … Sie haben ihn zu den Kriminellen gesperrt. Ein halbes Kind … Was dort geschah, wird niemand je erfahren …
    … unbeschreibliche Schönheit des Nordens! Der stille Schnee … und wie er leuchtet, sogar in der Nacht … Doch du bist nur ein Arbeitsvieh. Sie werfen dich brutal hinein in die Natur und holen dich wieder zurück. »Folter durch Schönheit« nannte er das. Sein Lieblingsspruch: »Die Blumen und Bäume sind Ihm besser gelungen als die Menschen.«
    … von der Liebe … Sein erstes Mal … Sie arbeiteten im Wald. Eine Kolonne Frauen wurde an ihnen vorbei zur Arbeit geführt. Die Frauen sahen die Männer und blieben stehen – rührten sich nicht von der Stelle. Der Natschalnik der Wachmannschaft brüllte: »Los, vorwärts! Vorwärts, hab ich gesagt!« Die Frauen rührten sich nicht. »Vorwärts, verdammt!« »Bürger Natschalnik, lassen Sie uns zu den Männern, wir halten es nicht mehr aus. Wir heulen los!« »Was? Ihr seid wohl verrückt! Tollwütig!« Sie standen da. »Wir gehen nicht weiter.« Dann das Kommando: »Ihr habt eine halbe Stunde. Wegtreten!« Im Nu löste sich die Kolonne auf. Aber alle waren rechtzeitig zurück. Pünktlich. Glücklich. (Sie schweigt.) Wo wohnt dieses Glück?
    … Er schrieb dort Gedichte. Irgendwer denunzierte ihn beim Lagerchef: »Er schreibt.« Der Natschalnik rief ihn zu sich: »Verfass mir einen Liebesbrief in Versen.« Er erzählte, der Natschalnik sei verlegen gewesen bei dieser Bitte. Er hatte irgendwo im Ural eine Liebe wohnen.
    … Auf der Heimfahrt lag er auf der oberen Pritsche. Der Zug war zwei Wochen unterwegs. Durch ganz Russland. Er lag die ganze Zeit oben, wagte sich nicht herunter. Rauchen ging er nachts. Er fürchtete, wenn ihm jemand etwas zu essen anbot, würde er anfangen zu weinen. Sie würden reden … Und die anderen würden erfahren, dass er aus dem Lager kam … Entfernte Verwandte seines Vaters nahmen ihn auf. Sie hatten

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