Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
ihn an einem Seil durchs Lager geschleift und ihn vor einer Baracke aufgestellt – schaut her! Lange stand er dort … bis zum Frühling …
… Wahltag … Ein Konzert im Wahllokal. Der Lagerchor sang. Da standen sie, Politische, Wlassow-Leute, Prostituierte, Taschendiebe – und sangen ein Lied über Stalin. »Stalin – unser Banner! Stalin – unser Glück!«
… Er hat dort ein Mädchen kennengelernt. Sie erzählte ihm, wie der Vernehmer auf sie eingeredet habe, das Protokoll zu unterschreiben: »Du fährst in die Hölle … Aber du bist hübsch, irgendein Natschalnik findet bestimmt Gefallen an dir. Das wird dich retten …«
… Im Frühling war es besonders schlimm. Alles in der Natur verändert sich … alles erwacht zum Leben … Man fragt lieber niemanden, wie lange er noch sitzen muss. Im Frühling ist jede Frist eine Ewigkeit! Vögel fliegen – niemand hebt den Kopf. Im Frühling schauten sie nicht zum Himmel …
An der Tür habe ich mich noch einmal umgeschaut und ihm zugewinkt. Nach einigen Stunden komme ich wieder, da ist er schon nicht mehr ansprechbar. Er bittet irgendwen: »Warte. Warte.« Dann hat er nichts mehr gesagt, nur noch bewusstlos dagelegen. Noch drei Tage. Ich gewöhnte mich auch daran. Nun, er liegt eben hier, und ich lebe hier. Sie stellten mir ein Bett neben seinem auf. Ja … Am dritten Tag … Es war schon schwierig, ihn intravenös zu spritzen. Blutgerinnsel … Ich musste den Ärzten gestatten, alles einzustellen, er würde keine Schmerzen haben, nichts mehr spüren. Und dann waren wir beide allein. Keine Geräte mehr, keine Ärzte, niemand kam mehr herein. Ich habe mich neben ihn gelegt. Es war kalt. Ich bin zu ihm unter die Decke gekrochen und eingeschlafen. Dann wachte ich auf … und hatte einen Augenblick lang das Gefühl: Wir schlafen bei uns zu Hause, die Balkontür steht offen … er ist noch nicht erwacht … Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen … Dann öffnete ich sie – und wusste wieder alles … Ich wurde ganz hektisch … Ich stand auf, legte ihm die Hände aufs Gesicht. »A-a-ach …« Er hörte mich. Dann begann die Agonie … und ich saß so da … hielt seine Hand, hörte seinen letzten Herzschlag. Noch lange saß ich so da … Dann rief ich die Pflegerin, sie half mir, ihm ein Hemd anzuziehen, es war hellblau, seine Lieblingsfarbe. Ich fragte: »Darf ich noch sitzen bleiben?« »Ja, bitte. Wenn Sie sich nicht fürchten?« Wovor sollte ich mich fürchten? Ich kannte ihn … wie eine Mutter ihr Kind kennt … Gegen Morgen wurde er schön … Die Angst war aus seinem Gesicht gewichen, die Anspannung, alle Hektik des Lebens. Und ich entdeckte feine, edle Züge. Das Gesicht eines orientalischen Prinzen. So war er also! So war er in Wirklichkeit! So hatte ich ihn nicht gekannt.
Er hatte nur eine einzige Bitte: »Schreib auf den Stein, der über mir liegen wird, dass ich ein glücklicher Mensch war. Ich wurde geliebt. Die schlimmste Qual ist, wenn du nicht geliebt wirst.« (Sie schweigt.) Unser Leben ist so kurz … Ein Augenblick! Ich sehe, wie meine alte Mutter abends in den Garten schaut … mit was für Augen …
Wir sitzen lange da und schweigen.
Ich kann das nicht … ich darf das nicht vergessen … Und nun werde ich wieder umworben. Bekomme Blumen geschenkt …
Am nächsten Tag – ein überraschender Anruf.
Ich habe die ganze Nacht geweint … gestöhnt vor Schmerz … Ich habe mich die ganze Zeit entfernt … immer weiter entfernt … bin in die andere Richtung geflohen. Ich habe mit Mühe überlebt … Und gestern ist alles wieder zurückgekommen … Sie haben mich zurückgeholt … Ich war in Verbände gehüllt, nun habe ich sie abgewickelt und sehe, dass nichts verheilt ist. Ich dachte, unter diesen Verbänden sei neue Haut gewachsen, aber das ist nicht so. Nichts ist verheilt. Nichts ist verschwunden … alles, was war … Ich habe Angst, das wegzugeben … Niemand wird es festhalten können. Mit normalen Händen kann man das nicht festhalten …
Geschichte einer Kindheit
Maria Woiteschonok, Schriftstellerin, 57 Jahre alt
Ich bin eine Osadniza. Ich bin in der Familie eines polnischen Osadnik- Offiziers geboren. Osadnik ist das polnische Wort für »Siedler« und meint jene, die nach dem sowjetisch-polnischen Krieg 1921 Boden in den »Ostgebieten« erhalten hatten. 1939 wurde das heutige westliche Weißrussland der UdSSR angegliedert (entsprechend dem geheimen Zusatzprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt), und
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