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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Tausende Osadniki wurden als »politisch gefährliche Elemente«, wie Berija sie in einer Notiz an Stalin nannte, mit ihren Familien nach Sibirien verbannt. Aber das ist die große Geschichte … ich habe meine eigene … meine kleine Geschichte …
    Ich weiß nicht, an welchem Tag ich geboren bin … nicht einmal das Jahr … Bei mir ist alles nur ungefähr. Ich habe keinerlei Papiere gefunden. Ich existiere, und ich existiere auch nicht. Ich erinnere mich an nichts, und ich erinnere mich an alles. Ich glaube, meine Mutter war mit mir schwanger, als sie deportiert wurden. Warum? Das Pfeifen von Lokomotiven macht mich immer unruhig … der Geruch der Bahnschwellen … und weinende Menschen auf Bahnhöfen … Selbst wenn ich mit einem schönen, bequemen Zug fahre, sobald daneben ein Güterzug vorbeidonnert, kommen mir die Tränen. Ich kann keine Viehwaggons sehen, das Brüllen der Tiere nicht ertragen … In solchen Waggons wurden wir deportiert. Da war ich noch gar nicht auf der Welt. Und war doch schon dabei. In meinen Träumen gibt es keine Gesichter … keine Handlung … meine Träume bestehen aus Geräuschen … Gerüchen …
    Das Altaigebiet. Die Stadt Smeïnogorsk … der Fluss Smejowka … Die Verbannten wurden vor der Stadt ausgeladen. An einem See. Sie lebten in der Erde. In Erdhütten. Ich bin unter der Erde geboren und dort aufgewachsen. Die Erde riecht seit meiner Kindheit für mich nach zu Hause. Es tropft von der Decke, ein Erdbrocken löst sich, fällt herunter und hüpft auf mich zu. Es ist eine Kröte. Aber ich bin noch klein, ich weiß noch nicht, wovor ich Angst haben muss. Ich schlafe neben zwei Ziegen, auf einer warmen Schicht Ziegenköttel … Mein erstes Wort ist »mä-äh« … das waren meine ersten Laute … nicht »Ma« … »Mama«. Meine ältere Schwester Wladja erzählte mir später, wie erstaunt ich gewesen sei, dass Ziegen nicht sprechen wie wir. Das verstand ich nicht. Ich hielt die Ziegen für meinesgleichen. Meine Welt war ein Ganzes, alles gehörte zusammen. Noch heute spüre ich keinen Unterschied zwischen uns, zwischen Menschen und Tieren. Ich spreche immer mit ihnen … und sie verstehen mich … Und die Käfer, die Spinnen … auch sie waren immer da, farbige, buntgemusterte Käfer. Das war mein Spielzeug. Im Frühling gingen wir zusammen hinaus in die Sonne, krabbelten auf der Erde herum, suchten etwas zu essen. Wärmten uns. Und im Winter erstarrten wir, wie die Bäume, fielen vor Hunger in Winterschlaf. Ich hatte meine eigene Schule, ich habe nicht nur von den Menschen gelernt. Ich spüre auch die Bäume und das Gras. Was mich am meisten interessiert im Leben, sind die Tiere, sie interessieren mich wirklich. Wie könnte ich mich loslösen von dieser Welt … von diesen Gerüchen … Das kann ich nicht. Da, endlich, die Sonne! Sommer! Ich bin oben … ringsum blendende Schönheit, und niemand macht irgendwem Essen. Überall Klänge, Farben. Ich probiere jeden Grashalm, jedes Blatt … jede Blume … jede Wurzel … Einmal habe ich Bilsenkraut gegessen und wäre beinahe gestorben. Ich habe ganze Bilder vor Augen … Ich erinnere mich an einen Berg, der »Blaubart« hieß, an das blaue Licht auf diesem Berg … Das Licht kam von der linken Seite, vom Hang. Es floss von oben nach unten … Ein unglaubliches Schauspiel! Ich fürchte, ich habe nicht genug Talent, um das zu beschreiben. Es wiederaufleben zu lassen. Worte sind nur das Beiwerk zu einem Zustand. Zu unseren Gefühlen. Roter Mohn, wilde Lilien, Pfingstrosen … Das alles breitete sich vor mir aus. Zu meinen Füßen. Oder ein anderes Bild … Ich sitze neben einem Haus … Über die Wand kriecht ein Sonnenfleck … er hat viele Farben … er verändert sich ständig. Lange, lange sitze ich dort. Ohne diese Farben wäre ich wahrscheinlich gestorben. Hätte nicht überlebt. Ich erinnere mich nicht, was wir aßen … ob wir überhaupt irgendeine menschliche Nahrung hatten …
    Abends sah ich schwarze Menschen vorbeiziehen. Schwarze Kleidung, schwarze Gesichter. Das waren die Verbannten, die aus den Gruben zurückkehrten … sie sahen alle aus wie mein Vater. Ich weiß nicht, ob mein Vater mich geliebt hat. Ob mich irgendjemand geliebt hat.
    Ich habe sehr wenige Erinnerungen … Ich hätte gern mehr. Ich suche im Dunkeln … versuche, möglichst viel hervorzuholen … Selten … ganz selten fällt mir plötzlich etwas wieder ein, das ich vergessen hatte. Mir ist bitter zumute, aber ich bin glücklich. Dann bin ich furchtbar

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