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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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glücklich …
    An die Winter habe ich keine Erinnerungen … Im Winter saß ich den ganzen Tag in der Erdhütte. Der Tag sah aus wie der Abend. Ständige Dämmerung. Kein einziger farbiger Fleck … Besaßen wir irgendwelche Sachen außer Schüsseln und Löffeln? Kleidung … ich erinnere mich nicht, dass wir richtige Kleider gehabt hätten … wir hüllten uns in irgendwelche Lumpen. Nirgends ein Farbtupfer. Schuhe … Was für Schuhe hatten wir? Galoschen … ich erinnere mich an Galoschen … ich hatte auch welche, sie waren groß und alt, wie die von Mama. Wahrscheinlich waren es ihre … Meinen ersten Mantel habe ich im Kinderheim bekommen, auch die ersten Handschuhe. Die erste Mütze. Ich erinnere mich: Im Dunkeln leuchtet ganz schwach Wladjas weißes Gesicht … Tagelang liegt sie da und hustet, das Bergwerk hat sie krank gemacht, sie hat Tuberkulose. Dieses Wort kenne ich schon … Mutter weint nicht … Ich erinnere mich nicht, dass sie je geweint hätte, sie sprach wenig, irgendwann hat sie wohl ganz damit aufgehört. Wenn der Husten nachlässt, ruft Wladja mich zu sich. »Sprich mir nach … Das ist Puschkin.« Ich spreche ihr nach: »Ein schöner Tag mit Frost und Sonne! Du liegst im Schlaf noch, meine Wonne?« 7 Und ich stelle mir den Winter vor. So, wie er bei Puschkin ist.
    Ich bin eine Sklavin des Wortes … dem Wort vertraue ich absolut … Ich erwarte immer Worte von einem Menschen, auch von Unbekannten, von Unbekannten sogar noch mehr. Bei Unbekannten kann man noch hoffen. Und ich möchte vielleicht auch selbst gern reden … manchmal entschließe ich mich. Bin dazu bereit. Doch sobald ich jemandem etwas erzähle, kann ich anschließend an der Stelle, von der ich erzählt habe, nichts mehr finden. Dort ist nur noch Leere, und ich verliere diese Erinnerungen. Dort entsteht augenblicklich ein Loch. Und ich muss lange warten, bis die Erinnerungen wieder zurückkommen. Darum schweige ich. Ich erforsche alles in mir selbst. Alle Wege, Labyrinthe, Höhlen …
    Die Flicken … Woher hatte ich diese Flicken und Stofffetzen? In verschiedenen Farben, viele dunkelrote. Irgendwer hatte sie mir gebracht. Aus diesen Flicken nähte ich kleine Menschlein, ich schnitt mir die Haare ab und machte ihnen daraus Frisuren. Das waren meine Freundinnen … Puppen hatte ich noch nie gesehen, so etwas kannte ich gar nicht. Wir lebten schon in der Stadt, aber nicht in einem Haus, sondern in einem Keller. Ein einziges blindes Fenster. Aber wir hatten nun eine Adresse: Stalinstraße 17. Wie andere Leute auch … wie alle … wir hatten eine Adresse wie alle anderen. Dort spielte ich mit einem Mädchen … sie wohnte nicht im Keller, sondern im Haus. Sie trug Kleider und Schuhe. Ich trug Mutters Galoschen … Ich zeigte ihr meine Flicken, draußen sahen sie noch schöner aus als im Keller. Verlockender. Das Mädchen wollte sie haben, wollte sie gegen irgendetwas bei mir eintauschen. Aber ich – niemals! Dann kam ihr Vater. »Spiel nicht mit dieser Bettlerin«, sagte er. Ich begriff, dass man mich einfach wegschob. Ich musste gehen, möglichst schnell und leise verschwinden. Natürlich fand ich diese Worte erst als Erwachsene, nicht damals, als Kind … Aber das Gefühl … an das Gefühl erinnere ich mich … Es tut so weh, dass man nicht einmal gekränkt ist, man tut sich auch nicht leid, nein, man ist auf einmal ganz frei. Aber Selbstmitleid – nein … Wer noch Mitleid mit sich hat, der hat noch nicht sehr tief geschaut, sich noch nicht von den Menschen entfernt. Wer das erst einmal getan hat, der braucht die Menschen nicht mehr, dem genügt das, was in ihm selbst ist. Ich hatte zu tief geschaut … Mich kann man kaum verletzen. Ich weine selten. Normales Unglück kommt mir lächerlich vor, der Kummer der Frauen … Für mich ist das Show … Show, nicht das wahre Leben … Doch wenn ich ein Kind weinen höre … wenn ich einen Bettler sehe … Da gehe ich nie vorbei. Diesen Geruch erkenne ich sofort … den Geruch des Unglücks. Er sendet Wellen aus, die ich bis heute empfange. Es ist der Geruch meiner Kindheit. Meiner Windeln.
    Ich bin mit Wladja unterwegs … wir bringen jemandem ein Mohairtuch … Ein schönes Stück, aus einer anderen Welt. Eine fertige Bestellung. Wladja konnte stricken und häkeln, und davon lebten wir. Die Frau bezahlte, dann sagte sie: »Kommt, ich schneide euch ein paar Blumen.« Wie – ein Blumenstrauß? Für uns? Wir stehen da, zwei Bettlerinnen, in Säcke gehüllt … hungrig, frierend …

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