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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Und auf einmal schenkt uns jemand Blumen! Wir dachten immer nur an Brot, aber diese Frau wusste, dass wir auch noch an etwas anderes denken konnten! Du bist eingeschlossen, eingemauert, und plötzlich macht jemand ein Fenster auf … ganz weit auf … Und es stellt sich heraus, außer Brot … außer Essen … kann man uns auch einen Strauß Blumen schenken! Das heißt, wir sind nicht anders als die anderen. Wir sind … wie sie … Das war ein Verstoß gegen die Regeln: »Kommt, ich schneide euch ein paar Blumen.« Nicht pflücken, nein, schneiden, im eigenen Garten. Von diesem Moment an … Vielleicht war das mein Schlüssel … ich hatte einen Schlüssel bekommen … Das hat mich umgekrempelt … Ich erinnere mich an diesen Strauß … es war ein großer Strauß Cosmeen. Die pflanze ich jetzt immer auf meiner Datscha. (Wir sitzen bei ihr auf der Datscha. Hier wachsen nur Blumen und Bäume.) Vor kurzem bin ich nach Sibirien gefahren … In die Stadt Smeïnogorsk … dorthin … Ich suchte unsere Straße … unser Haus … unseren Keller … Doch das Haus stand nicht mehr, es war abgerissen worden. Ich fragte überall herum: »Erinnern Sie sich …?« Ein alter Mann erinnerte sich – ja, in dem Keller hat damals ein hübsches Mädchen gewohnt, sie war krank. Die Menschen behalten Schönheit besser in Erinnerung als das Leiden. Auch den Blumenstrauß bekamen wir geschenkt, weil Wladja so schön war.
    Ich ging auf den Friedhof … am Tor stand eine Pförtnerbude mit zugenagelten Fenstern. Ich klopfte lange. Der Pförtner kam heraus … er war blind … Was war das für ein Zeichen? »Können Sie mir sagen, wo die Verbannten begraben sind?« »Ah … die sind da …« – er schwenkte den Arm; dort oben oder dort unten. Irgendwelche Leute führten mich dann hin … in die entlegenste Ecke … Dort war nur Gras … nur Gras … In der Nacht konnte ich nicht schlafen, ich bekam keine Luft. Ich hatte Krämpfe, ein Gefühl, als drückte mir jemand die Kehle zu … Ich rannte aus dem Hotel und zum Bahnhof. Zu Fuß durch die ganze menschenleere Stadt. Die Bahnstation war geschlossen. Ich setzte mich auf die Gleise und wartete bis zum Morgen. Auf dem Bahndamm saßen ein junger Mann und ein Mädchen. Sie küssten sich. Im Morgengrauen kam der Zug. Der Wagen war fast leer … Wir stiegen ein: Ich und vier Männer in Lederjacken, kahlgeschoren, sie sahen aus wie Kriminelle … Sie bewirteten mich mit Brot und Gurken. »Spiel’n wir ’ne Runde Karten?« Ich hatte keine Angst.
    Vor kurzem fiel mir wieder ein … Ich war unterwegs … saß im O- Bus … Da erinnerte ich mich, wie Wladja früher sang: »Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten, fragend überall: Wer weiß wo …« 8 Dann erfuhr ich: Das war Stalins Lieblingslied … wenn es gesungen wurde, weinte er … Da mochte ich es sofort nicht mehr, dieses Lied. Zu Wladja kamen oft Freundinnen, sie zum Tanz abholen. Das alles weiß ich noch … Ich war schon sechs oder sieben … Ich sah, wie die Mädchen statt eines Gummis Draht in die Unterhosen einzogen. Damit man sie ihnen nicht herunterreißen konnte … Dort waren ja nur Verbannte … Häftlinge … Es gab viele Morde. Über die Liebe wusste ich auch schon Bescheid. Als Wladja krank war, besuchte sie oft ein hübscher Junge – sie lag da, in Lumpen, und hustete. Aber er schaute sie so an …
    Das tut weh, aber es gehört zu mir. Ich laufe nicht davor weg … Ich kann nicht sagen, dass ich alles angenommen hätte, dass ich dankbar wäre für den Schmerz, nein, das wäre nicht das richtige Wort. Das richtige Wort finde ich jetzt nicht. Ich weiß, dass ich in diesem Zustand weit entfernt bin von allen. Ich bin allein. Das Leiden in die eigenen Hände nehmen, es sich vollkommen zu eigen machen und wieder aus ihm heraustreten, etwas daraus mitnehmen. Das ist ein großer Sieg, und nur das hat einen Sinn. Dann steht man nicht mit leeren Händen da … Warum hätte man sonst in die Hölle hinabsteigen müssen?
    Jemand führt mich ans Fenster … »Schau, da bringen sie deinen Vater …« Eine Frau, die ich nicht kannte, zog einen Schlitten vorbei, darauf lag etwas … Etwas oder jemand … in eine Decke gehüllt und mit einem Strick verschnürt … Später begruben meine Schwester und ich meine Mutter. Nun waren wir allein. Wladja konnte schon nicht mehr gut laufen, ihre Beine versagten. Ihre Haut löste sich ab wie Papier. Jemand brachte ihr ein Fläschchen … Ich dachte, das wäre Medizin, aber es war irgendeine Säure.

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