Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
wurden als Letzte mitgenommen, sie lagen blutend auf dem Asphalt … ›Was soll das, seid ihr verrückt?‹ ›Aber das sind doch unsere Feinde!‹ Irgendetwas war in diesen zwei Tagen mit den Menschen geschehen, überhaupt hatte sich die Atmosphäre verändert. Neben mir standen ganz andere Menschen als die, mit denen ich zwei Jahre zuvor vor dem Weißen Haus gestanden hatte. Sie hatten angeschliffene Armiereisen in der Hand … echte Maschinenpistolen, die wurden von einem LKW herunter verteilt … Das war Krieg! Das war ernst. Neben eine Telefonzelle wurden die Toten gelegt … Auch sie trugen geflickte Schuhe … Und unweit vom Weißen Haus waren die Cafés geöffnet, dort wurde Bier getrunken, wie immer. Schaulustige standen auf den Balkons und beobachteten das Geschehen wie im Theater. Und gleich hier … Vor meinen Augen trugen zwei Männer einen Fernseher aus dem Weißen Haus, aus ihren Taschen ragten Telefonhörer … Von oben schoss jemand munter auf die Plünderer. Wahrscheinlich Scharfschützen. Auf die Menschen oder auf den Fernseher … Auf den Straßen fielen die ganze Zeit Schüsse … (Er verstummt.) Als alles vorbei war und ich nach Hause kam, erfuhr ich, dass der Sohn meiner Nachbarin getötet worden war. Der Junge war zwanzig. Er hatte auf der anderen Seite der Barrikade gestanden … Mit ihm in der Küche zu streiten war das eine, aber auf ihn zu schießen … das war etwas anderes … Wie ist das gekommen? Das wollte ich nicht … Das machte die Menge … Die Menge ist ein Ungeheuer, der Mensch in der Menge ist ein ganz anderer als der, mit dem du in der Küche gesessen und geredet hast. Mit dem du Wodka und Tee getrunken hast. Ich werde nirgendwohin mehr gehen und auch meine Söhne nirgendwohin lassen … (Er schweigt.) Ich weiß nicht, was das war: Haben wir die Freiheit verteidigt oder uns an einem militärischen Umsturz beteiligt? Heute habe ich meine Zweifel … Hunderte Menschen sind umgekommen … An sie denkt niemand mehr, nur die Angehörigen. ›Wehe dem, der eine Stadt mit Blut baut …‹ 2 (Er schweigt.) Und wenn General Makaschow gesiegt hätte? Dann hätte es noch mehr Blut gegeben. Russland wäre zugrunde gegangen. Ich habe keine Antworten … Bis 1993 habe ich an Jelzin geglaubt …
Damals waren meine Söhne noch klein, inzwischen sind sie längst erwachsen. Einer ist sogar schon verheiratet. Ich habe mehrmals … ja … ich habe versucht … Ich wollte ihnen von 1991 erzählen … von 1993 … Das interessiert sie nicht mehr. Keine Spur. Sie haben nur eine Frage: ›Papa, warum bist du in den Neunzigern nicht reich geworden, damals war das doch so leicht?‹ Das heißt, nur Dumme und Leute mit zwei linken Händen sind nicht reich geworden. Die debilen Alten … die impotenten Küchenhocker … Die sind auf Kundgebungen gerannt. Haben die Luft der Freiheit geschnuppert, während kluge Leute Erdöl und Gas unter sich aufgeteilt haben …«
»Der Russe ist begeisterungsfähig. Er war begeistert von den Ideen des Kommunismus und setzte sie voller Eifer um, mit religiösem Fanatismus, und dann war er müde und enttäuscht. Er beschloss, sich von der alten Welt loszusagen, und schüttelte ihre Asche ab. Das ist so russisch – mit einem zerschlagenen Trog anzufangen. Und wieder sind wir berauscht von Ideen, die wir für neu halten. Vorwärts zum Sieg des Kapitalismus! Bald werden wir leben wie im Westen! Rosarote Träume …«
»Das Leben ist besser geworden.«
»Für einige sogar tausendmal besser.«
»Ich bin fünfzig Jahre alt … Ich bemühe mich, kein Sowok zu sein. Das fällt mir schwer. Ich arbeite bei einem privaten Unternehmer und hasse ihn. Ich bin nicht einverstanden mit der Verteilung des fetten Kuchens UdSSR , mit der Privatisierung. Ich mag die Reichen nicht. Im Fernsehen geben sie an mit ihren Palästen, ihren Weinkellern … Meinetwegen sollen sie in goldenen Wannen voller Muttermilch baden. Aber warum zeigen sie mir das? Ich kann nicht mit ihnen zusammenleben. Das ist kränkend. Beschämend. Und ich werde mich nicht mehr ändern. Ich habe zu lange im Sozialismus gelebt. Das Leben ist besser geworden, aber widerwärtiger.«
»Ich staune, wie viele sich noch nach der Sowjetmacht sehnen.«
»Wozu mit den Sowki diskutieren? Wir müssen warten, bis sie ausgestorben sind, und alles auf unsere Weise machen. Als Erstes die Mumie von Lenin aus dem Mausoleum werfen. Was soll dieses Asiatentum! Die Mumie liegt da wie ein Fluch gegen uns … Ein
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